Noah: Thriller (German Edition)
»Du hast drei Fahrkartenkontrollen verpasst. Wir sind bald da.«
»Und weshalb hast du mich nicht geweckt?«
»Damit du wieder einen Unschuldigen über den Haufen rennen kannst?« Er grinste. »Bleib ganz ruhig, Großer, dein Körper nimmt sich schon, was er braucht. Schlaf ist die beste Medizin für eine verwundete Seele. Außerdem wollte uns zur Abwechslung grad mal keiner erschießen.«
Oscar stand auf, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete die Tür des Abteils.
»Wo willst du hin?«, fragte Noah und erhob sich ebenfalls. Trotz des verhältnismäßig langen Schlafes fühlte er sich kaum ausgeruht.
»Was trinken. Hast du keinen Brand nach dem Aufwachen?«
Noah fasste sich an den Hals. Tatsächlich. Der Schlaf hatte ihn durstig gemacht.
»Der Speisewagen ist ein Waggon weiter«, sagte Oscar. »Lass uns die Sachen gleich mitnehmen, dann müssen wir vor dem Aussteigen nicht mehr zurück.«
Noah griff nach dem Koffer und folgte ihm auf den Gang. »Darf ich sie mal sehen?«, fragte er.
»Sie?« Oscar drehte sich fragend um.
»Deine Frau.« Noah zeigte auf das Amulett. »Es ist doch ein Bild von ihr darin, oder?«
Oscar schob die Unterlippe nach vorne. Erst sah es so aus, als wollte er ihm die Bitte abschlagen, dann aber seufzte er und öffnete den Verschluss des Anhängers. Das in ihm eingefasste, oval geränderte Fotopapier war schon etwas älter und an den Seiten leicht verblichen, worunter die Attraktivität des darauf abgelichteten Gesichts aber nicht gelitten hatte.
»Sie ist schön«, sagte Noah und meinte es so.
Große Augen, hohe Stirn, dunkle Haare, der Blick vielleicht etwas zu melancholisch, aber die Frau auf dem Foto lachte oft und gern, das war klar zu erkennen, auch wenn sie auf dem Bild die Lippen geschlossen hielt. Die Fältchen um die Augen verrieten es.
Oscar lächelte wehmütig. »Oh ja, das ist sie. Manuela war, lass mich überlegen …«, er zog die Stirn kraus, »… ja, sie war Anfang dreißig, als ich das Foto geschossen habe, damals hatten wir gerade unsere Mainzer Praxis eröffnet.«
Mainz?
Oscar klappte das Amulett wieder zu, drehte sich um und watschelte mit erstaunlich schnellen Schritten in Fahrtrichtung durch den Gang.
»Hattest du nicht Frankfurt gesagt?«
Noah lief ihm hinterher, leicht schwankend wegen der Bewegung des Zuges, und wiederholte die Frage, als er seinen Begleiter kurz vor dem Übergang zum Speisewagen wieder eingeholt hatte.
»Frankfurt?« Oscar drehte sich um. Das Amulett war längst wieder unter seinem Pulli verstaut. »Nein. Da hab ich nie gearbeitet.«
Noah verstaute den Koffer in einem Gepäckfach am Eingang des Waggons, dann setzten sie sich an einen Tisch in der Nähe der Küche, die ebenso verlassen wirkte wie der Rest des Speisewagens. Immerhin brannte Licht.
»Hoffentlich kriegen wir hier noch was, so kurz vor Amsterdam«, sorgte sich Oscar, doch Noah war nicht bereit, so schnell das Thema zu wechseln.
»Natürlich. Du hast doch von CLEAR geredet und dem Frankfurter Flughafen. Nicht von Mainz.«
Oscar senkte die Speisekarte, die er sich gerade erst aus einem Ständer gezogen hatte. »Hör mal, Großer, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber in deinem Zustand würde ich mich nicht gerade für eine Gedächtnisweltmeisterschaft anmelden. Vermutlich hast du da was durcheinandergebracht. Mainz liegt in der Frankfurter Einflugschneise, das waren sicher meine Worte.«
Noah dachte nach. Er glaubte, etwas anderes verstanden zu haben, aber wie sicher konnte er sein? Vorhin noch hatte er sogar Oscars Namen vergessen, weshalb sollte er sich jetzt an ein so unwichtiges Gesprächsdetail erinnern?
Plötzlich nahm er einen Schatten neben sich wahr, der wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Instinktiv tastete er nach seiner Waffe, entspannte sich dann aber etwas, als er das Gesicht wiedererkannte.
»Darf ich mich setzen?«, fragte der Mann.
Noah sah sich um. Alle Tische waren frei.
»Ich würde mich gerne bei Ihnen entschuldigen«, erklärte der Fremde mit unbewegter Miene.
»Sie? Das wäre ja wohl eher meine Aufgabe«, antwortete Noah erstaunt. »Immerhin war ich es doch, der Sie beim Einsteigen überrannt hat.«
5. Kapitel
Altmann hatte auf einer Party einmal einen Schauspiellehrer kennengelernt, eine angenehme Ausnahmeerscheinung unter all den Langweilern, die seine damalige Frau sonst regelmäßig zu Gesellschaften einlud, wie sie die Ansammlung von Idioten in ihrem Wohnzimmer zu nennen pflegte.
Der zweiundsechzigjährige
Weitere Kostenlose Bücher