Noah: Thriller (German Edition)
viel zu erfahrener Kämpfer. Er war ganz eindeutig darauf trainiert, selbst die kleinsten Veränderungen im Bewegungsmuster eines Angreifers zu erkennen. Und genau das war ihm zum Verhängnis geworden. Noah hatte in Berlin die von ihm ausgesandten Signale so gedeutet, wie Altmann es beabsichtigt hatte: die fehlenden Handschuhe, kein Gepäck, den aufblitzenden Knopf im Ohr, die Kieferbewegungen. Und wie vorhergesehen hatte Noah die Gelegenheit im Angriff gesucht – und war dadurch nun selbst zum Opfer geworden.
Im Hotel wie im Elektronikmarkt hatten die Ereignisse ihm keine Zeit zum Nachdenken gelassen. Ein Zustand, in dem er am gefährlichsten war. Jetzt aber gewährte Altmann ihm die Zeit, die Situation in scheinbarer Ruhe zu hinterfragen. Vermutlich hatte Noah selbst die Hand bereits an der Pistole; überlegte, ob er es wagen konnte, einen ganz sicher merkwürdigen, aber vielleicht unschuldigen Mitreisenden einfach so auf Verdacht zu erschießen – und vergeudete damit die wertvolle Zeit, die Altmann wiederum benötigte, um auf den bestmöglichen Moment zu warten: auf den der Einfahrt in den Bahnhof. Wenn jeder der ohnehin nur wenigen Fahrgäste ausschließlich mit sich selbst und dem Ausstieg beschäftigt war.
Und sollte Noah früher einen Angriffsversuch wagen, würde ihm die funktionsuntüchtige Replik in seiner Hand auch nichts nutzen.
Altmann betrachtete die Spritzer auf Noahs Jacke, dachte an seine sonst so geschickten Finger und fragte sich, ob es wohl sein Schicksal war, dass sein Leben immer nur dann funktionierte, wenn es um den Job ging. Wie um ihn Lügen zu strafen, piepste auf einmal sein Handy in der Hosentasche. Er zog es hervor und las im Display eine Nachricht seiner Tochter.
Bin ich zu spät, Dad? Happy birthday.
PS: Brauch mal deinen Rat.
Diesmal gelang es Altmann nicht, ein Lächeln zu vermeiden.
Ja, etwas spät, Leana. Aber besser spät als nie, oder?
Vermutlich war der Rat, den sie sich erhoffte, mit »In God we trust« beschriftet und nur in großen Scheinen erhältlich.
Aber was soll’s. Sie hat an mich gedacht. Wenn auch zu einem unpassenden Moment.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Noah misstrauisch.
Altmann war glücklich über die Zäsur, für die der Kellner sorgte, der an ihren Tisch zurückgekommen war, um zu kassieren. Er beglich die Rechnung. Noah zahlen zu lassen wäre ihm zynisch vorgekommen.
»Meine Damen und Herren, wir erreichen jetzt Amsterdam Centraal Station. Wegen eines ungewöhnlich hohen Passagieraufkommens kann es zu längeren Wartezeiten bei etwaigen Anschlusszügen kommen. Bitte wenden Sie sich an das Bahnhofspersonal.«
Die mehrsprachige Borddurchsage war für Altmann der Startschuss. Er löste die Waffe aus dem geöffneten Holster und richtete sie unter einer auf seinem Schoß ausgebreiteten Serviette auf Noahs Magen aus.
Da sie bereits entsichert war, musste er nur noch den Finger krümmen und …
»Entschuldigung, Sie haben da was.«
Altmann zögerte.
Zu seinem Erstaunen sprach eine tiefe Besorgnis aus Noahs Stimme. Auch Oscar blickte verstört drein.
»Wie bitte?«, fragte er Noah, den Finger weiterhin starr um den Abzug gekrümmt.
»Ihre Nase.«
Altmann zog die Augenbrauen zusammen und führte Zeige- und Mittelfinger seiner noch freien Hand an die Oberlippe.
Was zum Teufel …
Es fühlte sich nass an. Dünnflüssig. Und es roch …
Rot? Wie kann etwas rot riechen?
Er schluckte und schmeckte Metall. Altmann wurde kalt. Das war keine physische, sondern eine psychische Reaktion.
Dessen war er sich so bewusst, wie er die ersten Symptome erkannte.
»Sie entschuldigen mich«, sagte er, steckte die Waffe wieder zurück und stand hastig auf, beide Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger zusammengequetscht wie ein Taucher kurz vor der Rückwärtsrolle vom Boot. Er eilte an dem entsetzten Kellner vorbei auf die Toilette. Nahm die Hand von der Nase. Sah in den Spiegel. Dicke Tropfen fielen in das Waschbecken und zogen rote Tränen.
»Was ist denn da los bei Ihnen?«, hörte er die Einsatzleitung über seinen Knopf im Ohr. Räder quietschten. Der Zug drosselte seine Fahrt.
»Nichts«, antwortete Altmann knapp und starrte auf das Blut an seinen Fingern.
Das hat nichts zu bedeuten. Das ist sicher ganz harmlos.
Aber die Selbstbeschwichtigungsversuche wollten nicht funktionieren. Ein alles verdrängender Gedanke formierte sich in seinem Kopf: Manila-Grippe.
Soweit Altmann wusste, blieben ihm noch zehn, vielleicht fünfzehn Stunden, bis die
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