Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
fällt mein Blick auf Noah, und ich sehe, dass er mich anschaut. Ich glaube, er merkt, dass ich verstanden habe.
Das nächste Lied. Ich beginne in meinen Pinselstrichen etwas zu erkennen– die Andeutung eines Flügels, eine Gezeitenwelle.
Plötzlich sagt Noah etwas.
» Hast du es immer schon gewusst?«, fragt er. Ich weiß sofort, was er meint.
» Ziemlich früh, ja«, antworte ich. » Eigentlich schon immer. Und du?«
Er nickt, den Blick auf das Blatt Papier vor sich geheftet, die Pinselspitze blau.
» War es leicht für dich?«
» Ja«, sage ich, weil es die Wahrheit ist.
» Für mich nicht immer«, sagt er. Dann sagt er nichts mehr.
Ich höre zu malen auf und schaue ihm zu. Er konzentriert sich jetzt auf die Musik, führt seinen Pinsel in weitem Bogen über das Blatt. Er ist in völligem Gleichklang mit der Trompete, die über den Rhythmen des Schlagzeugs zu ihrem Solo angesetzt hat. Nachtblaues Indigo. Drückt das seine Stimmung aus? Ist es sein Liebeskummer, der ihn immer noch traurig sein lässt (ich muss an den Kommentar seiner Schwester in der Küche denken), oder etwas anderes?
Er spürt meine Reglosigkeit und dreht sich zu mir. Da ist etwas in seinen Augen, kurz bevor er zu sprechen anfängt– ich kann nicht sagen, ob Verletzlichkeit oder Zweifel. Ist er sich unsicher, was ihn oder was mich betrifft?
» Lass mich mal sehen, was du gemalt hast«, sagt er.
Ich schüttle den Kopf. » Nein, erst wenn das Lied zu Ende ist.«
Aber als das Lied zu Ende ist, bin ich auch noch nicht zufrieden.
» Da fehlt noch was«, erkläre ich, während das nächste Lied anfängt.
» Lass mich sehen«, sagt er. Etwas in mir möchte ihm nicht zeigen, was ich gemalt habe, möchte ihm die Sicht versperren. Aber natürlich tue ich das nicht.
Er steht neben mir, schaut auf die Musik, die ich gemalt habe. Als er spricht, untermalt Chet Bakers Horn seine Worte.
» Das ist fabelhaft«, sagt er.
Er ist mir so nahe. Ich fühle nur noch seine Gegenwart. Seine Nähe in der Luft, die uns umgibt, seine Nähe in der Musik, die uns umgibt, seine Nähe in all meinen Gedanken.
Ich halte immer noch den Pinsel in der Hand. Er umfasst meine Hand und hebt sie behutsam hoch.
» Hier«, flüstert er, während er den Pinsel übers Papier führt und eine magentafarbene Spur hinterlässt.
» Whenever it’s early twilight, I watch ’til a star breaks through …«
Die Spur auf dem Papier wird bald ein Ende haben. Das wissen wir beide. Unsere Hände sinken gemeinsam herab, liegen immer noch aufeinander.
Wir lassen uns nicht los.
Wir stehen da und schauen. Seine Hand über meiner. Wir atmen.
Alles bleibt unausgesprochen.
Das Lied hört auf. Ein anderes beginnt und setzt schwungvoll ein.
» Let’s get lost …«
Unsere Hände lösen sich voneinander. Ich drehe mich zu ihm. Er lächelt und geht zu seiner Staffelei zurück, nimmt seinen Pinsel. Ich folge ihm, um ihm über die Schulter zu blicken.
Und was ich sehe, haut mich um.
Sein Bild ist keine abstrakte Malerei. Bis auf einen einzigen Pinselstrich in Indigo hat er nur eine Farbe benutzt, ein fast schwarzes Dunkelgrün. Die Frau auf dem Bild tanzt mit geschlossenen Augen. Er hat nur sie gemalt, mehr braucht es auch nicht. Man sieht ihre Gestalt und weiß alles. Sie ist in einem Club, und sie tanzt allein.
» Wahnsinn«, murmele ich.
Er blickt verlegen weg. » Lass uns weitermachen«, sagt er.
Ich gehe zu meiner Staffelei zurück und trete dabei auf Farbspritzer am Boden, die von mir stammen. Wir verlieren uns noch einmal in den Rhythmen und Tönen. An einer Stelle singt Noah mit. Ich höre nicht auf zu malen, um die Worte zu verstehen, die er da singt. Aber was ich empfinde, fließt in meine Malerei ein. Meine Luftschwünge aus Farbe begegnen irgendwo in der Mitte des Raums seiner Tänzerin. Wir müssen nicht sprechen, um uns der Gegenwart des anderen bewusst zu sein.
So bleiben wir, bis das Zwielicht der Abenddämmerung heraufzieht und ich nach Hause muss.
Mittagessen mit Chuck
» Hast du ihn geküsst?«, fragt Joni sofort. Sie braucht nie lange, um auf den Punkt zu kommen. Sie fängt gleich an, mir zu Noah alle die Fragen zu stellen, die ich ihr zu Chuck nicht stelle.
Ich bin ja eigentlich nicht so einer, der alles gleich herausposaunt, aber Joni habe ich immer jedes Detail erzählt. Sie weiß über jeden Jungen Bescheid, den ich geküsst habe. Manchmal habe ich es ihr schon zwei Minuten, nachdem es passiert war, erzählt; manchmal erst Jahre später, um ihr zu
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