Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
ermutigt. Die uns signalisiert, dass wir uns besser kennenlernen sollten. Indem er mir sein Zimmer zeigt, lässt er mich einen Blick in seine Seele werfen. Ich bin nervös, weil ich ihn auch einen Blick in meine Seele werfen lassen möchte.
In der Mitte der Wand mit den frei schwebenden Büchern befindet sich eine sehr schmale Tür– kaum breiter als ein halber Meter. » Hier entlang«, sagt Noah. Er öffnet die Tür. Eine Garderobenstange mit Hemden kommt zum Vorschein. Dann verschwindet er im Inneren des Schranks.
Ich folge ihm. Die Tür fällt hinter mir zu. Es gibt kein Licht.
Wir zwängen uns durch den Schrank, der ungewöhnlich tief ist. Weil er gleichzeitig so schmal ist, hängen Noahs Sachen in mehreren Schichten übereinander. Ich schiebe mich zwischen seinen Hemden und T-Shirts hindurch und bleibe fast zwischen zwei herabbaumelnden Sweatern hängen.
» Reisen wir nach Narnia?«, frage ich.
Ich krabble auf allen vieren, um ihm durch so was Ähnliches wie einen Schacht zu folgen. Dann strecken sich Noahs Beine wieder– er steht in einem weiteren Durchgang und klettert eine Strickleiter hoch, die zu einer Falltür führt. Meinen Berechnungen nach müsste dort oben der Speicher sein. Aber ich kann mich auch täuschen.
Als Noah die Falltür hochklappt, strömt helles Licht auf uns herunter. Ich sehe, dass ich von verrußten Ziegelsteinen umgeben bin. Wir befinden uns in einem alten Kamin.
Die Strickleiter führt in ein helles, weiß gestrichenes Zimmer mit einem Fenster, einem Schrank und zwei Lautsprechern. Eine Staffelei steht in der Mitte des Raums und auf ihr wartet ein großes weißes Rechteck aus Papier.
» Hier male ich«, sagt Noah, während er eine zweite Staffelei aufstellt. » Niemand sonst darf hier rein. Meine Eltern mussten mir das versprechen, als wir eingezogen sind. Du bist der Erste, dem ich das zeige.«
Der Boden ist mit Farbklecksen und -spritzern in allen Farben und Formen übersät. Sogar an den weißen Wänden finden sich Spuren von Zinnoberrot, Azurblau und Gold. Noah scheint das nicht zu stören.
Ich bin noch nervöser als vorher. Es ist schon lange her, seit ich das letzte Mal ein Bild gemalt habe– und da gab es Zahlen auf dem Papier, die mir sagten, welche Farbe ich nehmen musste. Ich kritzle gerne und viel auf Heftränder und während ich telefoniere, aber darüber hinaus ist mein künstlerisches Repertoire sehr beschränkt.
» Jesus ist für unsere Sünden gestorben«, verkündet Noah feierlich.
» Äh, was???«, frage ich und verscheuche schnell meine Gedanken.
» Ich wollte nur wissen, ob du mir auch zuhörst. Eine Sekunde lang hast du ganz abwesend gewirkt.«
» Okay, jetzt bin ich wieder da.«
» Gut.« Er reicht mir eine Vase voller Pinsel und einen Eiswürfelbehälter voller Farben. » Dann lass uns anfangen.«
» Augenblick mal!«, protestiere ich. » Ich weiß noch gar nicht, was ich machen soll.«
Er lächelt. » Hör einfach der Musik zu und male. Folg dem Klang. Denk nicht an irgendwelche Regeln. Versuch nicht, irgendwas perfekt hinzukriegen. Lass dich einfach von dem Lied tragen.«
» Aber ich brauche eine Anleitung!«
» Das war die Anleitung!«
Er geht zu den Lautsprechern und stöpselt sie in die Wand. Musik erklingt, breitet sich wie eine Duftwolke im Raum aus. Ein Klavier spielt leise, ein Schlagzeug kommt dazu. Und dann beginnt die Stimme– diese wundervolle Stimme– zu singen.
» There’s a somebody I’m longing to see …«
» Wer ist das?«, frage ich.
» Chet Baker«
Er ist einfach großartig.
» Halt dich nicht zu lange bei den Worten auf«, sagt Noah, den Pinsel schon in der Hand. » Folge den Tönen.«
Zuerst weiß ich nicht so recht, was er meint. Ich tauche meinen Pinsel in ein samtiges Purpurrot, hebe ihn vor das weiße Blatt Papier und lausche der Musik. Chet Bakers Stimme fließt betörend und geschmeidig dahin. Ich berühre mit dem Pinsel das Papier und versuche, ihn mit der Melodie des Lieds langsam nach oben zu führen, dann nach unten, danach wieder nach oben. Ich male keinen Umriss von irgendetwas, ich male die Musik.
Ich tauche den Pinsel ins Wasser und probiere unterschiedliche Farben aus. Sonnenblumengelb verstreut seine Tupfer über das Blatt, Tomatenrot flirtet mit den Strichen der Purpurlinie. Ein neues Lied fängt an. Ich wähle Blau wie die Farbe der Ozeane.
» … I’m so lucky to be the one you run to see …«
Ich schließe die Augen und füge meiner Malerei das Blau hinzu. Als ich sie wieder öffne,
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