Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
und seiner Familie ist bereits alles tipptopp. Wir gehen durch die Haustür– und ich staune, wie perfekt alles ist. Die Möbel haben sich in ihr neues Heim bestens eingefügt. Das Einzige, was fehlt, ist Unordnung. Wir gehen weiter ins Wohnzimmer– und es ist eines der Wohnzimmer, die so aussehen, als ob darin nie jemand wohnen würde.
Wir gehen weiter in die Küche, um dort einen Happen zu essen. Noahs Schwester sitzt alarmbereit am Tisch, wie eine Mutter, die spätabends noch auf ist und darauf wartet, dass ihr Kind nach Hause kommt.
» Zu spät«, sagt sie. » Du hast Moms Anruf verpasst.«
Achte Klasse, schätze ich, vielleicht auch siebte. Schon alt genug, um sich zu schminken, aber noch nicht alt genug, um zu wissen, was zu ihrem Typ passt.
» Will sie noch mal anrufen?«, fragt Noah.
» Vielleicht.« Ende des Gesprächs.
Noah greift nach der Post auf dem Tisch, blättert durch die Kataloge und Werbebriefe auf der Suche nach etwas Wichtigem.
» Paul, das ist meine Schwester Claudia«, sagt er, während er recyclingfähiges Papier von nicht-recyclingfähigem trennt. » Claudia, das ist Paul.«
» Freut mich, dich kennenzulernen«, sage ich.
» Freut mich auch. Aber verletz ihn nicht so wie Pitt, okay?«
Noah ist jetzt deutlich genervt. » Geh in dein Zimmer, Claudia«, sagt er und legt die Post weg.
» Du bist hier nicht der Boss.«
» Ich hör wohl nicht richtig. Wie alt bist du eigentlich? Sechs Jahre?«
» Entschuldige mal, aber hast du nicht gerade zu mir gesagt ›Geh in dein Zimmer ‹ ? Und Pitt hat dich schrecklich behandelt, nur so nebenbei. Oder hast du das vergessen?«
Natürlich hat Noah das nicht vergessen. Und auch nicht, das muss man ihr lassen, Claudia.
Mit dieser Wendung des Gesprächs zufrieden, lässt sie das Thema dann auch fallen.
» Ich habe gerade Smoothies gemacht«, verkündet sie, während sie aufsteht. » Ihr könnt was davon haben, aber mindestens die Hälfte müsst ihr mir übrig lassen.«
Kaum ist sie aus der Küche, fragt Noah mich, ob ich eine kleine Schwester habe. Ich sage ihm, dass ich einen älteren Bruder habe, was man nicht wirklich vergleichen kann.
» Andere Methoden, dich fertigzumachen«, meint Noah.
Ich nicke.
Wir trinken etwas von Claudias Mango-Kirsch-Vanille-Kokosnuss-Mix, dann führt Noah mich in sein Zimmer hoch.
Kurz vor der Tür sagt er: » Ich hoffe, du hast nichts gegen spleenig.«
Um ehrlich zu sein, habe ich bisher noch nie was von spleenigem Stil gehört, geschweige denn darüber groß nachgedacht.
Dann sehe ich sein Zimmer, und mir ist sofort klar, was er meint.
Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, weder beim Schauen noch beim Beschreiben. Die Decke ist ein Wirbel aus so ungefähr jeder Farbe, die man sich vorstellen kann. Aber sie wirken nicht wie mühsam nacheinander aufgemalt– sondern als wären sie alle mit einem Mal da gewesen. Wie ein Bild. Eine ganze Wand ist mit Matchbox-Autos vollgeklebt, die in alle möglichen Richtungen fahren, als Hintergrund sind eine Stadt und Straßen aufgezeichnet. Die CD-Sammlung schwingt auf einem Schaukelbrett, das von der Decke hängt, und die Stereoanlage steht auf einem Sockel aus Postkarten mit den absurdesten Orten und Motiven– Botswana, der Kansas City International Airport, ein Elvis-Wettbewerb in England. Seine Bücher stehen auf frei schwebenden Regalbrettern, die kreuz und quer an einer meergrünen Wand angebracht sind. Sie trotzen der Schwerkraft, wie das gute Bücher immer tun sollten. Das Bett steht in der Mitte des Raums, kann aber mühelos in eine Ecke gerollt werden. Die Jalousien an den Fenstern sind aus alten Kaugummipapierchen, die er zu kunstvollen Mustern geklebt hat.
» Und das hast du alles in zwei Monaten gemacht?«, frage ich. Bei mir hat es fünfzehn Jahre gedauert, bis ich mein Zimmer dekoriert hatte, und es ist nicht annähernd so kunstvoll… oder spleenig-kunterbunt. Hätte ich aber gerne.
Noah nickt. » Ich kenne hier ja kaum Leute, deshalb hatte ich Zeit dafür.«
Er geht zu seiner Anlage und drückt ein paar Knöpfe. Sein Lächeln wirkt ein bisschen nervös.
» Das ist cool«, sage ich. » Wirklich. Ein sehr cooles Zimmer. Meines ist lange nicht so cool.«
» Kann ich mir nicht denken«, sagt er.
Das Seltsame und Besondere dieses Augenblicks verwirrt und verunsichert mich. Mir ist einerseits klar, dass wir uns eigentlich überhaupt nicht kennen. Und gleichzeitig ist da diese unbenennbare Schwingung, die wir beide spüren und die uns beide
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