Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Küstenlinien und Gebirgsketten die Rede und von kleinen Sternen dort, wo sich jeweils die Hauptstädte befinden. Weil meine Mutter, wie schon erwähnt, Zahnärztin ist und jeden Tag millimetergenau arbeitet, ist sie in allem, was sie tut, sehr präzise. Sie kann ohne Lineal eine gerade Linie ziehen und eine Serviette perfekt symmetrisch falten. In dieser Hinsicht sind wir uns überhaupt nicht ähnlich. Die meiste Zeit fühle ich mich nämlich wie ein Klecks. Alle geraden Linien, die ich ziehen soll, werden automatisch wellig. Und ich verbinde in Geometrie immer die falschen Punkte miteinander. (Joni sagt, dass das nicht stimmt, dass ich das mit dem Klecks in letzter Zeit nur behaupte, weil ich spüre, wie die Präzision meiner Mutter in mir wächst. Aber eins weiß ich ganz genau: Nie könnte ich wie meine Mutter zwei Pfannkuchen mit den Umrissen von Texas und Oklahoma backen, die dann wie zwei Puzzlestücke perfekt ineinanderpassen.)
Meine Eltern mustern heimlich Noah. Noah mustert heimlich meine Eltern. Ich beobachte unverhohlen alle drei und stelle fest, dass sich niemand unwohl zu fühlen scheint.
» Wie lange wohnen Sie schon hier bei uns in der Stadt?«, fragt mein Vater in höflichem Konversationston.
Genau in diesem Augenblick platzt mein Bruder in die Küche, eine breite Spur Tennisschweiß hinter sich herziehend.
» Wer bist du denn?«, fragt Jay, träufelt Ahornsirup über Minnesota und schiebt es sich dann ganz in den Mund.
» Noah.« Mir gefällt es, dass er nicht mehr erklärt und auch nicht » Freut mich, dich kennenzulernen« sagt, bevor er nicht herausgefunden hat, ob das auch wirklich der Wahrheit entspricht.
» Noch so ein schwuler Junge?«, fragt mich mein Bruder seufzend. » Oh Mann, kannst du nicht mal ein richtig süßes Mädchen mit nach Hause bringen, das sich dann unsterblich in mich verliebt? Kennst du überhaupt irgendein richtig süßes Mädchen? Schafsnase zählt natürlich nicht.« (Joni und er schenken sich gegenseitig nichts; sie nennt ihn Jauchekopf.)
Bevor ich antworten kann, springt Noah für mich ein. » Ich würde dich ja gern mit meiner Schwester bekannt machen«, sagt er, » aber ich fürchte, du hast die Chance gerade vertan.«
Jay hört zu kauen auf und macht eine kleine Pause, bevor er sich Arkansas schnappt. » Ist sie sexy?«, fragt er.
» Supersexy«, sagt Noah. » Stimmt’s, Paul?«
» Mich hat sie total umgehauen«, stimme ich zu. » Und dabei mag ich Mädchen ja gar nicht, also ich meine, nicht so.«
Jay nickt anerkennend. Meine Mutter schlägt ihm mit dem Rührlöffel auf die Hand, als er den Finger in die Schüssel mit dem restlichen Teig stecken will. Mein Vater blickt mal zu mir, mal zu Jay und scheint sich zu fragen, wie er nur zu zwei solchen Söhnen gekommen ist, die ihn so erschütternd durchschnittlich aussehen lassen.
Schließlich erzählt Jay von seinem Tennistraining und Noah und ich kriegen auch noch einen großen Happen von den Vereinigten Staaten. Meine Mutter fragt uns, ob wir noch mehr wollen ( » Ich kann euch auch Provinzen backen«), aber wir lehnen dankend ab.
Es ist an der Zeit, das Haus zu verlassen.
» Ich würd sie gern kennenlernen!«, ruft mein Bruder uns hinterher, als wir schon fast aus der Tür sind (natürlich nachdem wir uns überschwänglich bei meiner Mutter für die Pfannkuchen bedankt haben). Ich brauche eine Sekunde, bis ich kapiere, dass er Noahs Schwester meint.
Wir müssen laut lachen, während wir die Einfahrt zur Straße vorgehen.
» Und was jetzt?«, fragen wir gleichzeitig.
Wir zögern beide, weil keiner als Erster antworten will.
Schließlich muss es aber sein.
» In den Park«, sagen wir beide gleichzeitig.
Und das finde ich richtig cool.
Wir spazieren Händchen haltend durch die Stadt. Falls irgendjemand davon Notiz nimmt, kümmert es ihn jedenfalls nicht. Ich weiß, dass wir alle immer denken, das Herz sei das Zentrum unseres Fühlens, aber in diesem Moment ist alles, was ich fühle und bin, tiefer gerutscht, in die Hand, die Noah hält. Durch diese Hand, durch dieses Gefühl nehme ich die ganze Welt um mich herum wahr. Und auf einmal ist alles, was ich höre und sehe, gut– die Musik, die aus der offenen Tür des Plattenladens heraustönt; der alte Mann und die noch ältere Frau, die auf einer Parkbank sitzen und sich ein Blini teilen; das siebenjährige Mädchen, das auf einem Bein von Steinplatte zu Steinplatte hüpft, wackelig, mit den Armen balancierend, um ja auf keine Fuge zu treten.
Als
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