Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
hatte.
Ich will ihn jetzt am liebsten berühren. Nicht umarmen und festhalten, nur berühren. Aber ich bin wie gelähmt. Meine Reaktion, wenn ich von etwas überwältigt werde.
» Tut mir leid«, murmelt er.
» Nein, tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.«
» Nein.« Er schaut mich wieder an, das Zittern hört allmählich auf. » Du musst mich hassen. Du hast alles Recht dazu. Du brauchst auch nie mehr mit mir zu reden, wenn du nicht willst.«
Er steht auf, um zu gehen. Meine Starre hat sich gelockert. Ich lege die Hand auf seinen Arm, damit er sich wieder hinsetzt.
» Hör mir gut zu, Kyle«, sage ich. Er setzt sich wieder und sieht mich an. » Ich meine das jetzt ganz ernst. Und ich werde das nur einmal sagen. Ich hasse dich nicht und ich habe dich nie gehasst. Ich war wütend auf dich und verletzt und verwirrt. Aber niemals war Hass dabei.«
» Danke«, flüstert er.
Ich fahre versöhnlich fort: » Wenn du von mir willst, dass ich dir vergebe, dann habe ich das wahrscheinlich bereits getan. Wenn du wissen willst, ob ich dich hasse, dann hast du jetzt die Antwort: Nein, ich hasse dich nicht. War’s das, was du von mir wolltest?«
Wieder ein leichtes Zittern.
» Nein«, sagt er.
» Was denn noch?«, frage ich sanft.
» Ich brauche deine Hilfe, Paul. Ich weiß, ich habe nicht das Recht, dich darum zu bitten, aber ich habe sonst niemand, mit dem ich darüber reden könnte.«
Ich bin bereits in die Sache verwickelt, und in Wahrheit habe ich auch nichts dagegen, ihm zu helfen.
» Worum geht es denn?«
» Ich bin so verwirrt.«
» Warum?«
» Ich mag immer noch Mädchen.«
» Ja, und?«
» Und ich mag auch immer noch Jungs.«
Ich berühre sein Knie. » Das hört sich gar nicht so an, als würdest du unter einer Verwirrung leiden.«
» Aber ich wollte ganz klar entweder so oder so sein. Als ich mit dir zusammen war, wollte ich einfach nur dich lieben. Danach, nach dir, wollte ich einfach nur Mädchen lieben. Aber immer wenn ich das eine habe, kann ich mir das andere auch immer noch vorstellen.«
» Dann bist du bisexuell.«
Kyle wird rot. » Ich hasse dieses Wort«, sagt er und lässt sich auf dem Stuhl zurückfallen. » Das klingt so, als wäre ich geteilt.«
» Wo du doch in Wirklichkeit gedoppelt bist.«
» Klaro!«
Ich grinse. Es ist schon lange her, dass ich ein » Klaro!« gehört habe.
Ich weiß, dass manche Leute denken, wenn man Jungs und Mädchen mag, ist man ein Doppelagent. Oder ein Drückeberger, der sich nicht entscheiden kann. Ein paar der größten Rivalinnen von Infinite Darlene haben für solche Leute, die sie » Doppelmopper« nennen, nur Verachtung übrig. Aber ich halte das für totalen Quatsch. Ich bin zwar nun mal so gepolt, dass ich nur auf Jungs stehe, aber warum soll es nicht andere geben, die in beide Richtungen verdrahtet sind?
» Wir könnten dich ja ambisexuell nennen oder duosexuell oder pansex–«
» Muss es dafür wirklich ein Wort geben?«, unterbricht er mich. » Kann es nicht einfach sein, was es ist?«
» Natürlich«, sage ich, obwohl ich mir da nicht so sicher bin, was unser Umfeld betrifft. Die Welt liebt solche blöden Aufkleber. Ich wünschte, wir könnten uns die wenigstens selbst auswählen.
Wir schweigen einen Augenblick. Ich frage mich, ob das jetzt alles war– ob er einfach nur die Wahrheit loswerden und sie einmal aussprechen musste. Aber dann sieht Kyle mich unsicher an und sagt: » Ich weiß nicht, wer ich eigentlich bin.«
» Keiner weiß das«, versichere ich ihm.
Er nickt. Ich spüre, dass er noch etwas anderes sagen will. Aber er behält es für sich, und deshalb verschwimmt dieses Etwas in seinem Gesicht.
» Glaubst du, wir können Freunde sein?«, fragt er.
Es ist schon komisch– wenn er mich das damals gefragt hätte, als er mit mir Schluss gemacht hat, wenn er da mit der » Lass uns Freunde bleiben«-Floskel gekommen wäre, hätte ich nur laut gelacht oder ihm sämtliche Haare ausgerissen. Aber jetzt, hier im Chemielabor, entfaltet der Satz seine Wirkung. Und meint tatsächlich genau, was er sagt.
» Ja«, antworte ich. Und dann überrascht Kyle mich. Er beugt sich in seinem Stuhl nach vorne und schließt mich in die Arme. Diesmal hält er mich mit aller Kraft, obwohl ich nicht zittere. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich reagieren soll.
Ich weiß, er will, dass ich mich irgendwie getröstet fühle. Und tief in meinem Innern weiß ich, dass ich Angst habe, er könnte sich dadurch auch getröstet
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