war nahezu verstummt, das Essen hatte seinen sowieso schon faden Geschmack gänzlich verloren.
Nur Caroline war noch da, ihr Blick, als sie begriff, ihr stilles Flehen.
Wie schon so oft loggte Annika sich in ihre private Mailadresse ein und lud den Text über die Nobelnacht aus ihrem Online-Archiv.
Zum Glück hatte sie sofort alles aufgeschrieben. Es war ein Trost, dass ihre Gedanken von jenem Abend noch da waren, dass ihre Reaktionen klar und ungetrübt abrufbar waren. Ihre Reaktionen auf das Licht, die Gläser, den Tanz und natürlich Bosse. Auf den Stoß, den blauen Fleck auf ihrem Fuß, den Träger, Caroline, das Blut, die gelben Augen.
Die gelben Augen …
Sie schloss die Lider und sah sie wieder vor sich, erinnerte sich nur an die Erinnerung.
Wie schnell Dinge verschwinden.
Sie klickte die Seite weg und öffnete ihre Outlook-Express-Mailbox, die mit der Zeitung verbunden war.
Sie hatte drei neue Nachrichten.
Fest im Kindergartengarten – ihr bringt den Kuchen, wir laden ein zu Kaffee und Saft.
Sie starrte die Mail eine Zeit lang an. Es war die Kita in Kungsholmen, die einlud, und die Mail war ein Versehen, eine Massenmail von einer Liste, aus der sie noch nicht gestrichen war. Dort gehörten sie nicht mehr hin.
Sie öffnete die nächste Nachricht:
Neuer Akku.
Nach elf Uhr konnte sie sich bei Spiken einen funktionierenden Akku abholen, das passte ja gut.
Als sie den Betreff der dritten Mail las, hielten ihre Hände über der Tastatur inne.
Du lügst, und du wirst bestraft werden!
Als sie den Absender in der Kopfzeile der Nachricht las, beugte sie sich vor:
Nobel Lebt
Was um alles in der Welt …?
Sie öffnete die Nachricht.
Du gehörst zur Schar der Heuchler. Du hast dich zum Träger des Lichts ernannt, aber in Wahrheit verbreitest du Lügen und Dunkelheit.
Was …?
Sie richtete sich auf und las weiter.
Ich kenne die Wahrheit über die Nobelversammlung. Der Hohepriester der Heuchler, Machiavelli des Nobelkomitees, der Mann, der Falschheit zu einer Spielart der Kunst und Despotie zu einer Tugend gemacht hat, dachte, er würde mich zum Schweigen bringen, wenn er mich aus dem Kreis verstößt. Aber dafür muss er mit anderen Mitteln aufwarten, frag Nemesis, frag Caroline von Behring! Und frag Birgitta Larsén.
Aha, dachte sie und ging mit der Maus zurück zur Signatur
Nobel Lebt.
Sie markierte den Absender, klickte auf »Eigenschaften« und erhielt die vollständige Adresse hinter der Signatur:
[email protected].
Sie atmete laut aus: Das war ja klar!
Aber was meinte er? Wen hatte er im Visier? Ernst Ericsson, Carolines Nachfolger als Vorstandsvorsitzender des Nobelkomitees?
Alle wissen es, aber alle schweigen, spielen das schmutzige Spiel mit. Der Mächtige ist gänzlich von der Pharmaindustrie gekauft, ruht sicher im Schlund des Monsters. Er säuft zu viel und lässt unsichere Ergebnisse durchgehen
–
jetzt wird sein MS-Präparat getestet, aber was ist mit seinen Versuchstieren geschehen? Warum wurden sie in aller Stille begraben? Wir müssen alle einen Teil der Verantwortung übernehmen. Wessen Leben ist am wichtigsten? Das der Mächtigen oder das der Kranken?
Annikas Unbehagen wuchs, je weiter sie las.
Deine Freundin ist eine Mitgiftjägerin, die ihre Kompagnons aus dem Spiel gedrängt hat, ich weiß genau, wie das abgelaufen ist, allein das Geld steuert die Menschen, nur den Mammon beten sie an. Jetzt hat sie sich wieder einen Platz in der Welt erkauft, einen Platz an der Tafel der Hungrigen, im Saal, wo Abend für Abend Särimner geschlachtet wird, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden …
Der Schluss richtete sich direkt an sie.
Du trägst vor der Welt Verantwortung, eine Verantwortung, die du angesichts der Wahrheit auf dich genommen hast, aber du bist abtrünnig.
Das bleibt nicht ungestraft.
NICHT UNGESTRAFT!
Die Mail war nicht unterschrieben.
Sie saß regungslos vor dem Bildschirm und starrte darauf, bis ihr die Augen brannten.
Post von durchgeknallten Lesern war nichts Ungewöhnliches für jemanden, der seinen Namen unter Texte in einer Abendzeitung setzte. In der Redaktion hatte sie einen ganzen Schuhkarton voll merkwürdiger und hasserfüllter Briefe, Faxe und ausgedruckter Mails.
Das hier war etwas anderes, Gewichtigeres.
Der übergeschnappte und ausgestoßene Professor wollte ihr wahrhaft drohen.
Er hatte nicht unterschrieben, aber die Mail kam von seiner offiziellen Adresse am Karolinska-Institut. Offensichtlich war er nicht darum bemüht,