Nobels Testament
ähnlich, deshalb wünschte ich, dass ich diese Frage verneinen könnte. Leider haben wir aber noch keine totale Applizierungsform gefunden. Die komplexen Fragen, die den gesamten Organismus betreffen, sei es nun ein Gewächs oder ein Tier, können nicht durch Zellexperimente gelöst werden.«
Sie bogen ab und folgten einer langen Hecke.
»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte Annika.
»Etwas, das ich Ihnen verraten kann? Tja, dass im Alter tatsächlich in höherem Umfang
glial cell-line derived neutrotrophic factors
produziert werden. Wir müssen hier rein.«
»Sie wissen also, wie alt ich werden kann?«
»Das hängt hauptsächlich von Ihren Genen ab, Darling, und natürlich davon, wie Sie sich pflegen, aber soweit wir heute wissen, liegt die biologische Altersgrenze des Menschen irgendwo zwischen hundertzwanzig und hundertdreißig Jahren.«
Sie tätschelte Annika die Wange.
»Sie haben noch ein bisschen. Seien Sie so nett und schalten Sie Ihr Handy aus, wir betreiben in diesen Gebäuden elektrophysiologische Studien und versuchen, die Strahlung so gering wie möglich zu halten. Wir können noch austrinken, ehe wir reingehen.«
Sie ließen sich auf einer Bank vor dem Eingang nieder. Annika schaltete ihr Telefon aus, schloss die Augen und genoss die Wärme.
»Weshalb hat Lars-Henry am Samstag so einen Aufstand gemacht?«, fragte sie. »Was hat er eigentlich gesagt?«
Birgitta Larsén gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Lachen und Kichern klang.
»Lars-Henry hat sich mit allen angelegt, inklusive mir. Ich habe mitbekommen, wie er mehrere Leute angegriffen hat, einzeln sowie in Gruppen. Ebba Romanova beispielsweise und Bernhard Thorell. Sören Hammarsten und seine Clique, er hat sich auch auf den Rektor eingeschossen, aber geknallt hat es dann bei Ernst.«
»Weshalb?«
Sie trank ihren Milchkaffee aus.
»Aus ungefähr denselben Gründen, die auch in Ihrer Mail stehen. Er behauptete, dass Ernst bei seinen Versuchen betrogen hätte, dass er die Order hatte, sie zu wiederholen, die Versuche aber misslangen und er die Ergebnisse trotzdem veröffentlicht hat.«
»Dass er seine Forschungsergebnisse gefälscht hat? In Bezug auf was?«
»Das war nur Gerede, nicht ernst zu nehmen.«
Annika ließ den Blick über die Wiese schweifen.
»Dann spielt es doch keine Rolle, oder?«, sagte sie. »Dann können Sie es mir ja erzählen.«
Birgitta Larsén seufzte auf und sah sie von der Seite an.
»Sie geben nicht auf, was? Es hat mit Multipler Sklerose zu tun. Sie wissen, dass MS eine entzündliche Krankheit des zentralen Nervensystems ist?«
»Hat das nicht US-Präsident Bartlet in der Serie
The West Wing?
«
,
sagte Annika.
»Kenne ich nicht«, sagte Birgitta Larsén. »Das Arzneimittel ist noch relativ neu, gerade mal zehn Jahre alt, und Ernst war damals einer der Hauptakteure. Seine Gruppe hat entscheidend dazu beigetragen, herauszufinden, dass die neuen Interferonbeta-Präparate, die Verzögerungsmedikamente also, in manchen Fällen von körpereigenen Antikörpern neutralisiert werden. Lars-Henry hat ihn wegen seiner Versuche, die Neutralisierung zu verhindern, des Betrugs beschuldigt.«
»Warum?«
»Ernst hatte mit seinen Versuchen Erfolg, er schrieb einen Artikel darüber, der von
Science
angenommen wurde.
Science
ist Ihnen sicher ein Begriff, oder?«
»Das Prestigeblatt der Wissenschaft«, sagte Annika. »Ich kenne den Chefredakteur.« Sie erinnerte sich an ihren Tischherrn bei der Nobelpreis-Gala.
»Na, so etwas! Der Artikel wurde unter dem Vorbehalt angenommen, dass Ernst seine Versuche wiederholt und die gleichen Resultate erzielt. So weit stimmt die Geschichte. Lars-Henry behauptet, dass Ernst betrogen habe. Dass er das zweite Experiment nur vorgetäuscht und die falschen Berichte eingeschickt habe.«
»Hat er das denn getan?«
Birgitta kicherte.
»Ernst hatte bereits alle Versuche zweimal gemacht, er hatte ein eindeutiges Ergebnis. Trotzdem hat er sie noch ein drittes Mal wiederholt. Es hat weitere vier Monate gedauert, aber er war wieder erfolgreich. MS-Patienten in der ganzen Welt werden in Zukunft dafür dankbar sein. Haben Sie ausgetrunken?«
Annika zerdrückte den leeren Pappbecher.
»Wunderbar«, sagte die Professorin. »Sie werden bemerken, dass diese Räume nicht zu Astras ehemaliger Vorzeigedomäne gehörten.«
Birgitta Larsén öffnete die Eingangstür mit einer Plastikkarte und einem Sicherheitscode. Sie betraten eine Halle mit fleckigen Wänden und
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