Noble House 02 - Gai-Jin
vertilgen. Sie trug absichtlich einen unscheinbaren Reisekimono. Jeder, der sie anblickte, nahm an, sie sei die Frau eines kleinen Händlers und nicht eine der reichsten Mama-sans von ganz Edo, die Besitzerin eines der teuersten Freudenhäuser in der größten Yoshiwara des Landes – erst kürzlich nach dem Feuer des letzten Jahres vollkommen neu erbaut und ausgestattet –, Mama-san von zehn der begabtesten Geishas, zwanzig der liebreizendsten Kurtisanen sowie Besitzerin des Kontrakts von Koiko der Lilie. Sie sah sich in Raikos innerstem Heiligtum um, das für besondere Anlässe reserviert war, bewunderte die kostbaren Kissen und Tatamis, plauderte, während sie aß, und fragte sich, warum man sie um ein Treffen gebeten hatte.
Als das Essen verzehrt und die Dienerinnen entlassen worden waren, schenkte Raiko zwei Schalen von ihrem besten Brandy ein. »Gesundheit und Geld!«
»Gesundheit und Geld!« Die Qualität des Brandys war ausgezeichnet. »Gai-Jin scheinen ihre Vorzüge zu haben.«
»Auf dem Gebiet der Weine und Schnäpse ja, aber nicht, was ihre Anhängsel betrifft«, sagte Raiko glucksend. »Bitte gestatte mir, dir eine Flasche zu schenken. Einer meiner Kunden ist Furansu.«
»Danke. Es freut mich, daß das Geschäft so gut geht, Raiko-chan.«
»Es könnte immer besser sein.«
»Und Hinodeh?« fragte Meikin – ihr gehörte ihr halber Kontraktpreis. Als Hinodeh zuerst zu ihr gekommen war, hatte sie das Mädchen bei einer Cousine untergebracht, der Mama-san eines anderen Hauses, das ihr gehörte. Später hatte sie zufällig von Raikos merkwürdiger und höchst unorthodoxer Bitte um eine besondere Art von Mädchen erfahren. Es war einfach, die Vereinbarungen zu treffen – Raiko war eine alte Freundin, die sie seit vielen Jahren kannte und der sie vertraute, seit sie beide zusammen maiko und dann Kurtisanen gewesen waren. »Ist das Arrangement weiterhin zufriedenstellend?«
»Ich habe eine neue Zahlung für dich, obwohl der Mann langsam ist.«
Meikin lachte. »Das überrascht mich nicht. Du kannst großartig verhandeln.« Sie verneigte sich dankend.
»Er verspricht eine größere Zahlung in einigen Tagen. Vermutlich ein weiteres Paar Ohrringe.«
»Ah!« Meikin hatte das erste Paar gewinnbringend verkauft. »Das war ein höchst befriedigendes Geschäft.« Die Anzahlung des Kunden auf Hinodehs Kontrakt war mehr als genug gewesen, um für wenigstens ein Jahr alle Kosten zu decken. »Wie geht es ihr?«
Raiko berichtete von dem ersten und den folgenden Treffen. Die andere Frau hörte mit atemlosem Interesse zu.
»Sie hat recht, ihn als Bestie zu bezeichnen«, sagte Meikin.
»Er ist kein schlechter Mann. Ich glaube, diese Krankheit macht ihn wohl von Zeit zu Zeit verrückt. Zumindest weiß sie das Schlimmste und akzeptiert, daß er ihr Karma ist.«
»Darf ich fragen, ob… ob sie schon Male aufweist?«
»Nein, nichts. Aber jeden Tag läßt sie mich die Stellen untersuchen, die sie selbst auch mit einem Spiegel nicht sehen kann.«
»Seltsam, Raiko-chan.« Meikin rückte einen in ihrem Haar steckenden Kamm zurecht. »Wenn irgend etwas erscheint, das nicht zu verbergen ist – wird sie dann das Messer suchen?«
Raiko zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Hat sie dir gesagt, warum sie dieses Karma akzeptiert hat?«
»Nein. Nichts. Ich habe sie gern und kann nur wenig helfen. Ja, seltsam, daß sie es uns nicht sagen will, neh?« Raiko schlürfte ihren Brandy, angetan von der Wärme, die er in ihr erzeugte, und von dem seltenen Vergnügen, ihre älteste Freundin zu bewirten. Sie waren unzertrennlich gewesen, als sie noch maiko waren, später dann ein Liebespaar, und immer hatten sie einander Vertraulichkeiten erzählt – gefahrlos. »Heute abend besucht er sie. Wenn du willst, kannst du sie für eine Weile beobachten.«
Meikin kicherte. »Ich bin schon lange darüber hinaus, bei den Spielen anderer Interesse oder Erregung zu empfinden, seien sie nun gewalttätig oder leidenschaftlich – sogar bei gut bestückten Gai-Jin.« Sie war zu glücklich, mit ihrer alten Freundin zusammenzusein, um ihr die traurige Geschichte von Gekko und Shin Komoda zu erzählen. Sie hatte darauf bestanden, sie zu erfahren, ehe sie Hinodeh zu Raiko schickte.
Wenn Hinodeh tot ist, Raiko-chan, werde ich sie dir erzählen, und wir können gemeinsam eine Träne über den Kummer vergießen, den wir Frauen ertragen müssen. Bis dahin ist Hinodehs Geheimnis sicher, und auch der Name ihres Sohnes und der Ort, an den er
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