Noble House 02 - Gai-Jin
gemacht und schien auf etwas zu warten. Der Schreibtisch war aufgeräumt, keine Papiere waren zu sehen. In einer Ecke des Zimmers hockte Ah Tok, verzweifelt vor sich hinmurmelnd.
Angélique erschauerte. Dann folgte sie den beiden Männern und setzte sich in Malcolms hohen Lehnstuhl.
Hinter einem Ölgemälde war ein kleiner, eiserner Wandsafe verborgen. Angélique beobachtete unbewegt, wie Jamie ein Schlüsselbund durchsah. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug dreimal.
»Wer hat sonst noch Schlüssel, Jamie?« fragte Skye.
»Nur ich, ich und der… der Tai-Pan.«
»Wo sind dessen Schlüssel?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich sind sie noch bei… noch an Bord.«
Die Tür des Safes öffnete sich. Ein paar Briefe, alle in Tess Struans Handschrift, bis auf einen, der Malcolms Schrift aufwies und offensichtlich unfertig war, ein kleiner Beutel aus Chamois-Leder und eine Brieftasche. Die Brieftasche enthielt eine verblichene Daguerreotypie seines Vaters und seiner Mutter, die verlegen in die Kamera starrten, Malcolms persönliche Papiere, ein paar Notizen sowie Schuldscheine und eine Liste von Schulden und Schuldnern. Skye blätterte sie durch. »Könnten das teilweise Spielschulden sein, Jamie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Zweitausendvierhundertzwanzig Guineas. Eine saubere Summe für einen jungen Mann. Erkennen Sie zufällig irgendwelche Namen?«
»Nur diesen.« Jamie blickt ihn an.
»Mme. Emma Richaud? Fünfhundert Guineas?«
Angélique räusperte sich: »Meine Tante. Sie und Onkel Michel haben mich großgezogen, Mr. Skye. Meine richtige Mutter starb, als ich noch klein war. Sie haben mir geholfen, und Mal… Malcolm war so freundlich, ihnen das zu schicken. Ich bat ihn darum.«
»Jamie, ich hätte gern eine Abschrift von dem hier, eine Liste, bitte«, sagte Skye, wieder ganz der Anwalt. »Ich bitte Sie, das hier in Verwahrung zu nehmen.« Er griff nach dem halben Dutzend Briefe, aber Jamie war schneller als er. »Ich würde sagen, die hier waren privat.«
»Privat für wen, Jamie?«
»Für ihn.«
»Ich werde einen Gerichtsbeschluß erwirken, um sie zu sehen und abschreiben zu lassen, wenn ich sie für wichtig halte.«
»Das können Sie natürlich tun«, sagte Jamie und verfluchte sich selbst, weil er den Safe erwähnt hatte, ohne zuvor Sir Williams Rat einzuholen.
»Darf ich sie bitte sehen, Jamie?« meldete sich Angélique. »Ich nehme an, sie gehören zu den Habseligkeiten meines Mannes. Im Augenblick scheinen es nicht gerade viele zu sein.«
Ihre Stimme klang so sanft und so traurig, daß er seufzte und sich sagte: Junge, du steckst jetzt so tief drin, daß es keine Rolle spielt. Über die gesetzlichen Dinge wird Sir William entscheiden müssen. Dann war er plötzlich wieder bei der gestrigen Abendtide, auf der Pier; alle drei waren sie so fröhlich und zuversichtlich gewesen, hatten gelacht, alle zukünftigen Hongkonger Sturmwolken schienen so weit entfernt, und dann waren die beiden auf dem Kutter zu ihrer Hochzeitsnacht abgefahren, und Malcolm hatte gesagt: »Danke, mein prächtiger Freund, und wachen Sie über uns, denn das haben wir nötig. Versprochen?«
Er hatte es versprochen, hatte geschworen, auch Angélique zu behüten, und dann hatte er ihnen ein langes und glückliches Leben gewünscht und war winkend an Land zurückgeblieben. Wie recht Malcolm gehabt hatte. Der arme Malcolm, hatte er etwas vorausgeahnt? »Hier«, sagte er freundlich.
Ohne auf die Briefe zu schauen, legte Angélique sie in ihren Schoß und faltete wieder die Hände. Reglos saß sie da. Ein Luftzug ließ eine Strähne wehen, die sich an der Schläfe aus ihrer Frisur gelöst hatte.
Inzwischen hatte Skye den kleinen Beutel geöffnet, der Goldguineas und Geldscheine der Bank von England enthielt. Er zählte sie laut. Angélique wandte keinen Blick von der Öffnung des Safes.
»Zweihundertdreiundsechzig Guineas.« Skye steckte sie wieder in den Lederbeutel. »Die sollten sofort an Mrs. Struan gehen – gegen Quittung natürlich.«
»Vielleicht ist es am besten«, sagte Jamie, der dem Ganzen ein Ende bereiten wollte, »wenn Skye und ich Sir William aufsuchen. Ich habe nie zuvor mit solchen Sachen zu tun gehabt, und ich bin ratlos – Angélique, Sie verstehen das, nicht wahr?«
»Ich weiß, daß Malcolm Ihr Freund war und Sie seiner, wie Sie auch mein Freund sind. Bitte, tun Sie, was Sie für das beste halten.«
Skye sagte: »Wir gehen jetzt hin, Jamie, je eher, desto besser, er kann entscheiden, wem dies hier
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