Noble House 02 - Gai-Jin
gehört. Inzwischen…«
Er ging zu Angélique und reichte ihr den kleinen Beutel, aber sie meinte: »Nehmen Sie ihn mit, und die hier auch«, damit reichte sie ihm die Briefe. »Lassen Sie mir nur das Foto hier. Danke, Mr. Skye. Und auch Ihnen vielen Dank, lieber Jamie, ich sehe Sie, wenn Sie zurückkommen.«
Die beiden Männer warteten darauf, daß Angélique aufstand, aber sie bewegte sich nicht. »Sie werden doch nicht hier bleiben, oder?« fragte Jamie verstört, weil ihm das makaber erschien.
»Doch, ich glaube schon. Ich habe hier so viel Zeit verbracht, in diesem Zimmer, daß es mir… daß es mich irgendwie anspricht. Die Tür zu meiner Suite ist offen, falls ich… falls ich Ruhe brauche. Aber bitte, würden Sie Ah Tok wegbringen, die Ärmste, und ihr sagen, sie soll nicht wiederkommen? Die arme Frau, sie braucht Hilfe. Bitten Sie Dr. Hoag, nach ihr zu sehen.«
»Möchten Sie, daß ich die Tür schließe?«
»Die Tür? Oh, es spielt keine Rolle, ja, wenn Sie möchten.«
Sie taten, worum Angélique gebeten hatte, und sorgten dafür, daß Ah Tok Chens Obhut übergeben wurde, der selbst noch ganz aufgelöst war. Dann gingen sie hinaus auf die High Street, beide erleichtert, wieder im Freien zu sein, aber in ihre eigenen Gedanken versunken. Skye machte fieberhaft Pläne, während Jamie sich außerstande sah, an die Zukunft zu denken. Sein vorausschauender und messerscharfer Verstand war getrübt von der Tragödie und, er wußte nicht warum, von der Sorge um das Noble House.
Was hat Angélique plötzlich an sich? fragte er sich, ohne die Promenade, den böigen Wind, die auf den Kiesstrand schlagende Brandung und den Geruch der Algen zu bemerken. Die Traurigkeit steht ihr. Könnte es ein, daß… Sie ist jetzt eine Frau! Das ist der Unterschied. Sie ist eine Frau, kein Mädchen mehr. Liegt es an der Katastrophe oder daran, daß sie keine Jungfrau mehr ist – die mystische Veränderung, die anscheinend bei dieser Verwandlung geschieht oder geschehen sollte? Oder vielleicht beides?
»Großer Gott«, sagte er, weil er unwillkürlich laut dachte, »was passiert, wenn sie ein Kind bekommt?«
»Um ihretwillen bete ich, daß sie schwanger ist«, sagte der kleine Mann neben ihm nüchtern.
Als sie gegangen waren, schloß Angélique die Augen und atmete tief durch. Als sie sich beruhigt hatte, stand sie auf, verriegelte die Tür und öffnete die Verbindungstür. Ihr Bett war gemacht, frische Blumen standen in einer Vase auf dem Ankleidetisch. Nachdem sie ihre Tür verriegelt hatte, kehrte sie in Malcolms Suite zurück und setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl.
Erst jetzt betrachtete sie die Fotografie – die erste, die sie von seinen Eltern sah. Auf der Rückseite stand: 17. Oktober 1861. Voriges Jahr. Culum Struan wirkte viel älter, als er tatsächlich war, nämlich zweiundvierzig, Tess weder alt noch jung. Blasse Augen starrten Angélique direkt an, und die Linie ihres Mundes war streng.
Tess wird dieses Jahr siebenunddreißig. Wie werde ich aussehen, wenn ich so alt bin wie sie – in neunzehn Jahren –, mehr als doppelt so alt wie heute? Werde ich die gleichen harten Züge haben, die von einer lieblosen Ehe und familiären Bürde künden? Tess haßt ihren Vater und ihre Brüder, diese wiederum hassen sie, und beide Seiten versuchen, einander zu ruinieren – dabei begann ihr Fall so romantisch, mit einer Flucht und einer Trauung auf See, wie bei uns, aber, bei Gott, was für ein Unterschied!
Sie schaute aus dem Fenster auf die Bucht und auf die dort liegenden Schiffe, ein Handelsdampfer verließ gerade den Hafen – Kapitän und Offiziere auf der Brücke; der Postdampfer war von Tendern umgeben, da war der Kutter von Struan’s, da die Prancing Cloud.
Sie schloß kurz die Augen, blickte dann erneut nach draußen. Kein Irrtum. Den ganzen Tag schon sahen ihre Augen mit dieser unerwarteten, verwirrenden Klarsicht. Sie hatte es sofort bemerkt, als sie heute morgen erwacht war: jedes Detail des Raumes war gestochen scharf, die Vorhänge, die welken Blumen in einer Vase, die kreisenden Fliegen, vier an der Zahl. Gleich darauf hatte es geklopft, und Ah Toks Stimme hatte gesagt: »Missee? Medizinmann will kommen, Sie sehen, heya?« Es war, als sei auch ihr Gehör geschärft und als hätten Ah Toks Schritte sie sanft aus dem Schlaf geweckt.
Noch seltsamer war die Klarheit ihres Geistes. Alles Schwere schien verschwunden. Die Traurigkeit war noch da, aber sie konnte nüchtern und klar über ein Problem nach
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