Noble House 02 - Gai-Jin
dem anderen nachdenken, ohne die Dinge durcheinanderzubringen; sie konnte Entscheidungen treffen, und die entsetzliche Angst war nicht mehr da, keine Spur mehr davon. Sorge, ja, die gab es, das war nur vernünftig, aber keine übelkeitserregende Panik und Unentschlossenheit mehr.
Jetzt konnte sie sich in allen Einzelheiten an jenen Tag und jene Nacht erinnern, ohne die erdrückende, unmenschliche, unerhörte Leere. War ich betäubt? Die ganze Zeit? Stimmt es, was Dr. Hoag heute morgen sagte? »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind von allen Problemen geheilt. Solange Sie von Zeit zu Zeit weinen können und keine Angst haben, sich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn Ihr Geist das tun will, wird es Ihnen von Tag zu Tag besser gehen. Sie sind jung und gesund, und das Leben liegt noch vor Ihnen …«
Mon Dieu, was für Platitüden Ärzte von sich geben. Nach Hoag kam Babcott. Er erzählte ihr dasselbe. Er war sanft und groß und zärtlich gewesen, von einer Zärtlichkeit, die in Glut hätte umschlagen können, wenn sie das zugelassen hätte. Keine Glut mehr, dachte sie, nicht, bevor ich frei bin. Und in Sicherheit.
Ihr Körper war ausgeruht. Keine rasenden Kopfschmerzen mehr. Sie wußte beim Aufwachen sofort, wo sie war, warum sie allein war und was passiert war. Sie erlebte es erneut, sah sich selbst in diesem Alptraum, bewußt, aber unbeteiligt, nicht wirklich betroffen: Sie sah, wie sie von Chens Schrei erwachte, aus dem Schlaf gerissen wurde, sah, wie sie in panischer Angst versuchte, Malcolm wachzurütteln, dann das Blut an ihren unteren Gliedmaßen entdeckte und einen Moment entsetzt glaubte, sie habe zu tief geschnitten. Dann merkte sie, daß er es war, daß es sein Blut war und daß er tot war, tot, tot.
Sie war nackt aus dem Bett gesprungen, hatte entsetzt gekreischt. Sie glaubte nicht, was ihre Augen und Ohren ihr sagten, betete, es möge ein Traum sein, während andere in die Kajüte gestürzt kamen, Ah Soh, Ah Tok, jemand ihr etwas überwarf und sie Stimmen und Rufe und Schreie und Fragen hörte, Fragen über Fragen, bis sie in der Kajüte das Bewußtsein verlor. Dann war sie auf der Brücke, schmeckte Blut, Blut an ihren Lenden und ihren Händen und in ihren Haaren, und ihr Magen bäumte sich auf.
Ah Soh half ihr in ein Bad, das Wasser war nicht heiß genug, um seinen Tod abzuwaschen… Mehr Übelkeit, dann das blind machende Gift, das sie füllte, sie ertränkte, bis sie sich selbst sah, wie sie Hoag anschrie, ein so häßliches Bild, so häßlich…
Sie erschauerte. Muß ich so aussehen, wenn ich alt bin? Wie alt ist alt? Manche müssen dazu nicht sehr alt sein. Was genau sie zu Hoag gesagt hatte, wußte sie auch jetzt noch nicht, nur, daß das Gift versickert und dann guter Schlaf über sie gekommen war.
Es gibt so vieles, wofür ich Hoag dankbar sein muß und Babcott verachten kann – sein Schlafmittel löste mein Versinken in der Verzweiflung aus. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Warum, begreife ich nicht, aber es ist wahr – das verdanke ich Malcolm und Hoag und diesem übelriechenden kleinen Anwalt mit seinem schlechten Atem und auch André. André ist noch immer weise, noch immer mein Vertrauter, und das wird er bleiben, solange ich bezahle. Ja, er ist ein Erpresser. Das spielt keine Rolle. Um sich selbst zu helfen, muß er mich beschützen, und außerdem gibt es einen Gott im Himmel, und Gottes Mühlen mahlen langsam, aber schrecklich fein.
Ich glaube, ich kann mein Leben jetzt bewältigen, wenn ich vorsichtig bin.
Heilige Mutter Gottes, wir sind vor so langer Zeit übereingekommen, daß ich mir selbst helfen muß und nicht von einem Mann oder Männern abhängig sein kann wie der Rest meiner armen Schwestern. Ich weiß, daß ich eine Sünderin bin. Malcolm war wirklich der einzige Mann, den ich wahrhaft geliebt habe, den ich wirklich heiraten wollte; ich habe ihn geliebt, wie ein dummer Backfisch nur lieben kann. Ist die erste Liebe die wahre Liebe?
Aber mein Liebling ist tot. Ich akzeptiere das. Und jetzt?
Tess? Hongkong? André? Gornt? Die Heimat? Alles der Reihe nach.
Zuerst muß mein Liebling zur Ruhe gebettet werden. Wie es sich gehört.
Sie sah den Safe, dessen Tür geschlossen, aber nicht versperrt war. Langsam stand sie auf, öffnete ihn ganz, tastete hinein und berührte eine kleine, versteckte Einkerbung. Ein Teil der linken Wand schwang auf. In der Höhlung lagen einige Papiere, ein weiterer persönlicher Stempel, noch ein Beutel mit Münzen und Scheinen, eine Flasche
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