Noble House 02 - Gai-Jin
du und dieser andere alte Idiot, Marlowe, der ebenso große Schuld daran trägt. Madonna, gib mir Kraft! Madonna, hilf mir, mich an beiden zu rächen! Und an ihm, wer immer er ist! Mutter Gottes, schenk mir Rache! Aber warum hat er mir das Kreuz gestohlen, den übrigen Schmuck aber nicht angerührt, und warum die Schriftzeichen, und was haben sie zu bedeuten? Und warum in Blut, in seinem Blut?
Sie merkte, daß er sie anstarrte. »M’sieur?«
»Ich sagte, möchten Sie jetzt Mr. Struan sehen?«
»Ach ja! Bitte.« Inzwischen wieder vollkommen beherrscht, erhob sie sich ebenfalls. »Übrigens, ich habe leider Wasser auf den Bettlaken verschüttet – würden Sie das Zimmermädchen anweisen, sich darum zu kümmern?«
Er lachte. »Wir haben hier keine Zimmermädchen. Gegen die Vorschriften der Japaner. Wir haben chinesische Hausboys. Keine Angst, die werden inzwischen bereits mit dem Aufräumen begonnen haben…« Er unterbrach sich, denn sie war schneeweiß geworden. »Was ist?«
Sekundenlang hatte sie die Beherrschung verloren und sah sich wieder in ihrem Zimmer schrubben und waschen und verzweifelt sein, weil die Flecken nicht weichen wollten. Aber dann waren sie doch verschwunden, und sie erinnerte sich, immer wieder geprüft zu haben, ob ihr Geheimnis bewahrt bleiben würde – es war nichts mehr zu sehen, weder Feuchtigkeit noch Blut, ihr Geheimnis war für immer sicher, solange sie stark genug war und sich an ihren Plan hielt – ich muß – ich muß klug sein – ich muß!
Babcott erschrak, als sie plötzlich blaß wurde. Sofort war er neben ihr und hielt sie sanft bei beiden Schultern. »Keine Angst, Sie sind in Sicherheit, Sie sind bei uns wirklich sicher.«
»Ja. Tut mir leid«, stotterte sie ängstlich, mit gesenktem Kopf und tränennassen Wangen. »Es war nur, ich war, ich mußte an den armen Canterbury denken.«
Sie beobachtete sich selbst, von außen, ließ sich von ihm trösten, während sie überzeugt war, daß ihr Plan der einzig mögliche, der einzig kluge sei: Nichts war geschehen. Nichts, nichts, nichts.
Daran wirst du bis zu deiner nächsten Periode glauben. Und dann, wenn sie kommt, wirst du es für immer glauben.
Und wenn sie nicht kommt?
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
7
Montag, 17. September
»Gai-Jin sind Parasiten ohne Manieren«, erklärte Nori Anjo wutschnaubend. Er war der Oberste der roju, des Rates der Fünf Ältesten, ein untersetzter, rundgesichtiger, reich gekleideter Mann. »Sie haben unsere höfliche Entschuldigung verächtlich zurückgewiesen, obwohl das Tokaidō-Problem damit hätte beigelegt sein müssen, und nun sind sie so unverschämt, offiziell eine Audienz beim Shōgun… Die Schrift ist unsauber, die Worte unzulänglich, hier, lesen Sie selbst, das Schreiben ist soeben eingetroffen.«
Mit kaum verhohlener Ungeduld reichte er die Schriftrolle seinem weit jüngeren Gegner Toranaga Yoshi, der ihm gegenübersaß. Sie waren allein in einem der Audienzsäle hoch oben im Hauptturm der Burg von Edo; die Wachen hatten sie hinausgeschickt. Ein niedriger, scharlachrot lackierter Tisch trennte die beiden Männer, gedeckt mit einem schwarzen Teetablett, hauchdünnen Tassen und einer Teekanne aus Eierschalenporzellan.
»Was die Gai-Jin schreiben, spielt keine Rolle.« Yoshi nahm die Rolle voll Unbehagen entgegen, las sie aber nicht. Im Gegensatz zu Anjo trug er einfache Kleidung und Arbeits- statt Zeremonienschwerter. »Irgendwie müssen wir sie dazu bringen, zu tun, was wir wollen.« Er war Daimyo von Hisamatsu, einem kleinen, aber wichtigen Lehen ganz in der Nähe, und ein direkter Nachkomme des ersten Toranaga-Shōgun. Auf den jüngsten ›Wunsch‹ des Kaisers und gegen Anjos flammenden Widerstand war er vor kurzem zum Vormund des Eiben, des jungen Shōgun, ernannt worden und mußte die Lücke im Rat der Ältesten füllen. Sechsundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, aristokratisch, mit schlanken Händen und langen Fingern. »Was immer geschieht, sie dürfen auf gar keinen Fall den Shōgun sehen«, sagte er, »denn damit wäre die Legalität der Verträge besiegelt, die noch nicht korrekt ratifiziert worden sind. Wir werden ihnen die unverschämte Bitte abschlagen.«
»Ich stimme zu, sie ist unverschämt, aber wir müssen uns damit befassen und beschließen, was mit Sanjiro, diesem Satsuma-Hund, geschehen soll.« Beide hatten genug von dem Gai-Jin-Problem, das jetzt schon seit zwei Tagen ihr wa, ihre Harmonie, störte, und wollten diese
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