Noble House 02 - Gai-Jin
allen Gesellschaftsschichten vor, in allen Städten und Dörfern, in St. Petersburg, London, Paris, in Palästen wie in den schlimmsten Bezirken der Kasbah, sie konnte in jedem Bordell und bei jeder Dame der Nacht lauern, in China oder hier in unserer Schwimmenden Welt.
Ach, André, warum haben Sie mir all das gegeben? Seltsam, daß Sie so starben, wie Sie starben, Hand in Hand mit dem Mädchen, das Sie kauften, um es zu zerstören. Wie bösartig! Ihr Tod war ein Unfall. Wirklich? Henri ist sich da nicht sicher.
»Das ist alles sehr seltsam, William«, hatte Henri heute morgen gesagt. »Die Leichen, Skelette wäre ein besserer Ausdruck, lagen so da, als seien sie schon tot gewesen, bevor das Feuer ausbrach, kein Anzeichen für einen Fluchtversuch bei beiden. Einfach Seite an Seite, Hand in Hand. Ich bin verwirrt, denn André war bei all seinen Fehlern jemand, der einen großen Lebenswillen hatte, und bei einem Feuer versucht man doch instinktiv zu entkommen, man liegt nicht einfach da, das ist nicht möglich.«
»Wie lautet also die Antwort?«
»Ich weiß es nicht. Es hätte eine Selbstmordvereinbarung sein können, die vor dem Feuer geschlossen wurde. Gift, nichts anderes käme in Frage. Er war in letzter Zeit überempfindlich bis zum Wahnsinn, und er brauchte schrecklich viel Geld, um das Mädchen zu bezahlen. Aber André ein Selbstmörder? Können Sie sich das vorstellen?«
Nein, nicht André, dachte Sir William beunruhigt. Wurde er vergiftet, oder wurden sie beide vergiftet? Jetzt gibt es ein Motiv für einen Mord. Allmächtiger Gott, ist das möglich? Ja, es ist möglich, aber wer?
Müde und benommen schloß er die Augen. Je mehr er sich bemühte, die Frage zu beantworten, desto größer wurde seine Verwirrung. Geräuschlos öffnete sich die Tür. Sein Boy Nummer Eins watschelte herein und wollte ihn begrüßen, doch als er die Blässe seines Herrn bemerkte und sah, wie alt er wirkte, nahm er an, er schlafe. Er runzelte die Stirn, goß einen Whisky ein und stellte ihn leise neben ihn auf den Tisch. Sein Blick huschte rasch über Andrés Brief, der zuoberst auf dem Stapel lag. Dann ging er ebenso geräuschlos wieder hinaus.
Ein paar Minuten später klopfte es. Sir William fuhr aus dem Schlaf hoch, als Babcott den Kopf durch die Tür streckte. »Haben Sie eine Minute Zeit?«
»Oh, hallo, George, natürlich.« Sir William legte die Briefe in einen Ordner. »Setzen Sie sich, trinken Sie etwas. Was gibt’s?«
»Nichts.« Babcott wirkte erschöpft. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich jetzt für ein paar Stunden schlafen gehe. Bisher sind wir bei drei Toten aus Drunk Town, einem australischen Barkeeper und zwei Vagabunden ohne Papiere – in den Trümmern gibt es vielleicht noch mehr Leichen, aber wer weiß, wann sie mit dem Aufräumen fertig sein werden. Keiner scheint sich sonderlich darum zu kümmern.«
»Was ist mit dem Dorf und der Yoshiwara?«
»Da werden wir nie eine Zahl bekommen.« Babcott gähnte. »Sie scheinen diese Art von Statistik als nationales Geheimnis zu betrachten. Kann’s ihnen nicht verdenken, wir sind ja schließlich die Außenseiter. Nicht viele Opfer, nehme ich an – haben Sie gehört, daß fast alle Herbergen einen Schutzkeller hatten?«
»Verdammt schlau. Sollten wir auch einführen.«
»Ein Jammer, die Sache mit André…«, sagte Babcott, und sofort verspürte Sir William einen Stich. »Wir hatten ungeheures Glück, daß nicht mehr von unseren Leuten erwischt wurden, und wie Phillip mit dem Leben davonkam, weiß ich bis jetzt noch nicht. William, er ist sehr aufgewühlt, weil er sein Mädchen verloren hat. Warum geben Sie ihm nicht ein paar Wochen Urlaub und lassen ihn nach Hongkong oder Shanghai fahren?«
»Arbeit ist die beste Ablenkung, und ich brauche ihn hier.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Noch ein Gähnen. »Gott, bin ich müde. Wissen Sie, daß Hoag heute mit der Atlanta Belle fährt?«
»Er hat es mir vorhin gesagt, zumindest behauptete er, er hätte Sie gefragt, und Sie brauchten ihn nicht mehr. Ich nehme an, Tess hat ihn zum Rapport befohlen, sobald er Bescheid wußte – falls Angélique nicht schwanger war.«
»Ja. Zum Teil hat es auch persönliche Gründe, William, er will unbedingt nach Indien zurück, meint, sein Glück liege dort. Hoffentlich hat er recht, er ist ein fabelhafter Arzt, aber er redet zuviel.« Er runzelte die Stirn und unterdrückte ein Gähnen. »Hat er Ihnen gesagt, was in Tess’ Brief stand?«
»An Angélique? Nein. Er sagte,
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