Noch ein Kuss
Zeit eine Erklärung verdient hast. Ob deine Mutter damit einverstanden ist oder nicht.«
»Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich das wirklich bin, aber dennoch ist es an der Zeit, endlich darüber zu sprechen«, sagte Anne, die gerade ins Zimmer kam. Die drei sahen sich an – drei Menschen, die schon sehr lange nicht mehr richtig miteinander geredet hatten.
Annes frühe Rückkehr wunderte Carly, und ihr fiel auf, dass ihr Vater ein schuldbewusstes Gesicht zog. Offenbar hatte er ihre Mutter wegen ihres Besuches nachhause kommen lassen. Tja, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Trotzdem wurde Carly vor lauter Nervosität flau im Magen.
Anne nahm auf dem Sofa Platz, und Roger setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. Carly kniff die Augen zusammen, als fiele ihr das zum ersten Mal auf. Hatten ihre Eltern mehr getan, als sich bloß mit ihrem Leben abzufinden? Waren sie nach all dieser Zeit tatsächlich wieder zusammengekommen? Carly schüttelte den Kopf. Offenbar hatten sie mehr als nur ihren Frieden miteinander gemacht, doch so etwas konnte nicht über Nacht geschehen. Sie hatte die beiden einfach aus ihrem Leben verbannt und ihre Augen davor verschlossen, welche Fortschritte ihre Eltern in den Jahren gemacht hatten, die auf den Skandal und ihre einsame Kindheit gefolgt waren.
Carly hockte auf ihrer Récamiere und betrachtete ihre Eltern, die nun zusammen auf dem Sofa saßen, vereint auf eine Weise, die sie bisher nicht verstanden hatte.
»Wir haben nicht über unsere Probleme geredet, weil das so wollte. Ich dachte, wenn wir sie einfach hinter uns lassen, würden sie von allein verschwinden.« Anne befingerte den Ring an ihrer Hand und drehte ihn nervös hin und her.
»Was du nicht an dich heranlässt, kann dich auch nicht verletzen.« Leise wiederholte Carly den Satz, den ihre Mutter ihr jahrelang eingebläut hatte. Erst jetzt erkannte sie, dass dieses Motto sie dazu gebracht hatte, jedem Streit aus dem Wege zu gehen und sich der Realität zu verschließen.
»Und ich habe mitgemacht«, fuhr ihr Vater fort. »Ich hatte es versprochen. Der einzige Weg, deine Mutter zurückzubekommen, bestand darin, so zu tun, als sei nichts geschehen. Nach allem, was sie meinetwegen durchgemacht hatte, war dieses eine Zugeständnis nicht zu viel verlangt.« Er sah Carly an. »Jetzt weiß ich, dass ich Unrecht getan habe. Dass Unrecht getan haben. Du hast den Preis dafür bezahlt, dass wir unsere Ehe retten konnten.«
Diese Worte trafen so genau ins Schwarze, dass es Carly den Hals zuschnürte.
»Aber das war keine Absicht.« Anne kam zu ihr herüber und kniete sich neben sie. »Ich dachte, ich schütze dich damit. Ehrlich, ich habe geglaubt, ich täte das Richtige für uns alle.«
Carly blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Das weiß ich doch.« Die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, doch wenigstens sprachen sie nun wieder miteinander. »Aber eins muss ich unbedingt wissen.«
Anne schluckte schwer. »Was immer du willst«, sagte sie, und zum ersten Mal verstand Carly, wie schwer es ihrer Mutter fiel, das zu sagen.
»Habt ihr euch früher einmal geliebt?«, fragte Carly kleinlaut mit einer Stimme, die sich so kindlich anhörte, dass es mitleiderregend war. Doch sie war sich ganz sicher, dass sie stärker aus diesem Zimmer herauskommen würde, als sie hineingegangen war.
»Ich habe deinen Vater immer geliebt«, erwiderte Anne zögernd. »Und er mich.«
Carly räusperte sich und wandte sich an ihren Vater. »Warum dann … ?« Warum dann diese Affäre? Warum hatte er außerhalb seiner Ehe nach etwas gesucht, das von Anfang an da gewesen war?
Ihr Vater nickte, als ob er ihre Frage auch ohne Worte verstanden hätte. »Das kann ich dir sagen.«
»Nein. Ich möchte antworten. Weil ich nicht wusste, wie ich ihm diese Liebe zeigen sollte und ihn mit meinem Schweigen und meiner Distanziertheit von mir gestoßen habe.«
»Trotzdem hätte ich nicht fremdgehen dürfen. Ich hätte mehr für unsere Ehe tun müssen, hätte mehr Zeit für zuhause und weniger für die Karriere aufwenden sollen. Dann wäre keine Affäre und keine Tragödie nötig gewesen, um mich auf den richtigen Weg zu bringen.«
Beide Eltern übernahmen einen Teil der Schuld. Sie waren mit ihrem Leben ins Reine gekommen. Anscheinend war Carly die Einzige, die immer noch im Schatten der Vergangenheit lebte. »Und das bist du jetzt? Auf dem richtigen Weg, meine ich?«, fragte sie.
Anne hatte sich wieder auf die Couch gesetzt, und ihr
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