Noch ein Tag und eine Nacht
mit Michela sehen wollte, musste ich den Umweg über Dante nehmen: wie wenn man eine DVD einlegt und es nicht erlaubt ist, die Werbung zu überspringen.
Wie praktisch! Zu dieser Uhrzeit würde der Anrufbeantworter anspringen. Es war bestimmt einfacher und schneller, ihm eine Nachricht auf Band zu sprechen, als ihm alles im direkten Gespräch zu verklickern. Ich würde ihn bitten, Silvia aufzutreiben und ihr auszurichten, sie solle mich im Hotel anrufen. Gesagt, getan. Da Silvia die Nummer meines Hotels nicht hatte, musste ich die allerdings auch hinterlassen. Und das hieß, dass Dante ab jetzt die Nummer meines Hotels und meines Zimmers kannte.
Um zehn Uhr morgens, italienische Zeit, rief er an. Vier Uhr nachts, amerikanische Zeit.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass es bei mir tiefste Nacht war, aber er quasselte unbeeindruckt weiter; er erzählte mir, dass er sich bis sechs um seinen Sohn kümmern müsse, sich dann aber gleich auf die Suche nach Silvia machen werde. »Wie ist New York? Wie lange bleibst du? Wenn du länger da bist, nehm ich mir vielleicht eine Woche frei und komm dich besuchen… Na?«
»Lass uns heute Abend darüber reden. Erst mal vielen Dank. Ciao, ciao.«
Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich blieb im Bett, aber vergeblich. Um sechs Uhr morgens, diesmal Ortszeit, war ich schon auf den Beinen. Ich verließ das Zimmer und machte einen Spaziergang. Es ist wunderbar, um diese Uhrzeit durch die Stadt zu laufen. Ich ging ins Le Pain Quotidien auf der 7th Avenue frühstücken. Danach spazierte ich durch den Central Park.
Gegen zehn kehrte ich ins Hotel zurück, und da dort noch Frühstückszeit war, ging ich in den Speisesaal. Ich nahm Schinken und Käse und belegte mir ein Brötchen. Das Laufen hatte mich hungrig gemacht. Ich nahm noch ein Stück Melone. Leider gab es keinen rohen Schinken. Bei Melone mit Schinken frage ich mich immer, wer diese Kombination wohl erfunden haben mag. Ich esse das, weil ich es bei anderen gesehen habe und es mir schmeckt, aber ich weiß nicht, ob ich von allein darauf gekommen wäre, Melone und Schinken zu kombinieren, wenn ich beides in meinem Kühlschrank gehabt hätte. Egal!
Es waren nur sehr wenige Leute da: ein junges Pärchen aus Südamerika, das spanisch sprach, ein Mann in Sakko und Krawatte sowie am Nebentisch eine Frau um die vierzig. Ein Kellner, der den Tisch in der Mitte abräumte, ließ eine Glaskaraffe mit Grapefruitsaft fallen. Die Frau und ich sahen uns an und grinsten.
Als ich aufstand, um mir noch mal Kaffee nachzuschenken, bevor er abgeräumt wurde, fragte ich sie, ob sie auch noch welchen wollte. Sie sagte ja und lud mich an ihren Tisch ein. Sie war Amerikanerin, aber nicht aus New York, und begleitete ihren Mann auf einer Dienstreise. Sie hieß Dinah.
Um elf Uhr vormittags hatte ich immer noch nichts von meinem Koffer gehört. Ich klemmte mich ans Telefon.
»Vielleicht gegen zwei…«, bekam ich gesagt. Mein Problem an diesem Morgen war aber weniger, den Koffer zu finden, als Michelas Adresse ausfindig zu machen und Dante zu überleben.
Seine Hartnäckigkeit, sein Durchhaltevermögen, seine Entschlossenheit, die mich so fertigmachten, erwiesen sich bei der Mission, die ich ihm aufgetragen hatte, als äußerst nützlich. Um zwei Uhr nachmittags, also um acht Uhr abends in Italien, rief Dante mich im Hotel an und sagte nach fünfundzwanzig Minuten sinnloser Vorreden: »Auftrag ausgeführt. Ich habe einen Zettel an Silvias Wohnungstür gehängt, denn auf mein Klingeln hat niemand aufgemacht.«
»Danke, Dante.«
»Schon gut… Dafür schuldest du mir jetzt eine Pizza und ein Bier. Dann können wir uns endlich mal sehen und plaudern…«
Aber klar doch.
Waiting for Michela
Silvia rief mich an, und zum Glück hatte sie Michelas Adresse noch. Ich schrieb sie auf einen Zettel, den ich anschließend in der Hand hielt wie ein magisches Pergament. Ich machte sogar drei Abschriften davon.
Erfreut stellte ich sogleich fest, dass es gar nicht weit vom Hotel war. Kein Wolkenkratzer in Uptown, eine Adresse in West Village.
Am Montag ging ich frühmorgens in den Frühstücksraum hinunter, nahm einen Kaffee im Pappbecher und postierte mich gegenüber von Michelas Büro in der Hoffnung, sie das Gebäude betreten zu sehen. In der Perry Street Ecke 7th Avenue South liegt das Doma Cafe. Ich ging hinein und setzte mich an einen Tisch; von dort aus hatte man den Eingang zu ihrem Bürohaus im Auge. Ich wusste nicht mal, wann sie zur Arbeit ging.
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