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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Ich war sehr aufgeregt, vielleicht auch, weil ich bereits zwei Riesenbecher Kaffee getrunken hatte.
    Ich beobachtete die Passanten. Das habe ich schon immer gern getan. Als Kind stand ich im Sommer stundenlang auf dem Balkon meiner Oma und schaute mir die Leute an, die auf der Straße vorübergingen. Kinder wie ich, die Eis aßen, mit Mama und Papa an ihrer Seite. Meine Mutter musste oft arbeiten, und meine Oma ging nicht gern aus dem Haus. Vom Balkon blickte ich auch ab und zu in das Zimmer hinein, wo Oma im blauen Schein des Fernsehers dasaß, meist nur im Unterrock, und sich mit einem Fächer Luft zuwedelte, die Füße auf den Schlappen.
    Während ich darauf wartete, dass Michela auftauchte, kam ich mir vor wie in einer Seifenblase. Gewiss spielte auch die Zeitverschiebung eine Rolle. Ich beobachtete alles um mich herum aufmerksam, aber unbeteiligt, als hätte ich mit dem Leben nichts zu tun, das an mir vorbeilief. Das ist immer so, wenn ich an einem neuen Ort ankomme. Dann plötzlich kommt der Moment, in dem ich mir nichts sehnlicher wünsche, als daran teilzunehmen. Ich beneide die Leute, die dort leben. Im Ausland versuche ich immer wie ein Einheimischer zu wirken. Ich meide die touristischen Gegenden und trage weder Stadtplan noch Fotoapparat mit mir herum. Ich erinnere mich, wie ich einmal in London den Leicester Square überquerte und italienischen Urlaubern mit den typischen kleinen Rucksäcken begegnete. Ich betrachtete sie wie ein Londoner. Ich mied sie, doch gleichzeitig hatte ich auch den Wunsch, zu ihnen zu gehen und ihnen zu sagen, wo man gut essen und sich amüsieren konnte. Kurz, ich wollte so tun, als würde ich mich auskennen.
    Wie ich so an dem Tisch im Doma Cafe saß, fiel mir auf, dass man den Namenszug auf dem Schaufenster von innen andersherum sah, das D wurde von einer Säule verdeckt, deshalb las ich AMO, »ich liebe«. Ein Zeichen?, fragte ich mich.
    Gegenüber dem Lokal stand eine öffentliche Telefonzelle, und ich beschloss, Michela anzurufen. Mithilfe der Büroadresse fand ich nach ein paar Telefonaten die Nummer heraus. Den Zettel in der Hand saß ich dann eine halbe Stunde da.
    Soll ich sie anrufen? »Hallo, hier ist Giacomo, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, ich bin der Typ aus der Straßenbahn. Ich wollte mich für den Kaffee revanchieren, ich warte draußen auf dich.« Also ehrlich, das geht doch nicht.
    Ich holte tief Luft und rief sie an.
    Der Anrufbeantworter sprang an.
    Please leave a message…
    Click! Ich legte auf. Mein Herz, das ihre Stimme erkannt hatte, obwohl sie englisch sprach, klopfte zu heftig. Als wollte es herausspringen.
    Da ich nun wusste, dass der Anrufbeantworter dranging, wappnete ich mich und rief noch mal an. »Michela, ciao, hier ist Giacomo, der Typ aus der Straßenbahn; ich bin beruflich in New York und wollte dich fragen, ob du Lust auf einen Kaffee hast, falls ja, ich bin unt… ich bin im Hotel. Ruf mich an, hier ist die Nummer.«
    Ich hinterließ Namen und Telefonnummer des Hotels und legte auf.
    Um ein Haar hätte ich ihr verraten, dass ich unten vor ihrem Büro saß und wartete… Gott sei Dank hatte ich mir auf die Zunge gebissen, sonst hätte sie doch gedacht, ich spioniere ihr hinterher. Schließlich tat ich das nicht. Oder doch, ich tat genau das, aber anders. Anders wie? Keine Ahnung! Ich war völlig verwirrt…
    Ich verließ das Café und wanderte ziellos durch New York. Jede Stunde rief ich im Hotel an und fragte, ob Nachrichten für mich gekommen seien. Nichts. Das machte mich fertig. Das war, wie wenn man einer Frau, die einem gefällt, eine SMS schickt und sie nicht umgehend antwortet. Dann liest man die SMS alle drei Sekunden noch mal durch und kontrolliert die Sendezeit. Man zählt die Minuten, die Sekunden. Man liest ihre letzten Nachrichten noch mal. Weil man sie allesamt gespeichert hat. Da stehen sie, eine nach der anderen. Alle anderen, die nicht von ihr stammen, hat man gelöscht.
    Es ist schlimm, wenn man selbst die letzte Nachricht verschickt hat und nichts tun kann als warten. Wenn man Angst hat, lästig zu sein. Wenn man denkt, man habe einen falschen Zug gemacht, wie beim Schach, und man merkt: Jetzt ist’s aus. Man stellt sich vor, wie sie zu ihren Freundinnen sagt: »Der bombardiert mich vielleicht mit Nachrichten.« In dieser Situation kann man nichts tun, man fühlt sich hilflos. Das einzig Vernünftige ist, ihr nicht noch mehr Nachrichten zu schreiben. Irgendwann antwortet sie vielleicht, und man stellt

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