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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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tut, als wäre nichts, und kein Wort zu einem sagt, auch wenn’s schlecht läuft. Die Frage ist nicht, wie lang man wartet, sondern auf wen.«
    Nach dem Abendessen gingen wir nach Hause. Es war zwar Freitagabend, aber Michela musste am nächsten Tag arbeiten. Dafür wollte sie sich in der darauffolgenden Woche zwei Tage freinehmen und mit mir verbringen.
    Der Rotwein hatte uns angeheitert. Nicht betrunken gemacht, gerade recht. In dem Maße, dass man, sobald man die Wohnung betritt, übereinander herfällt, und am nächsten Morgen ist die Hose auf links gedreht und der Inhalt der Taschen über den ganzen Boden verstreut. Genau das passierte dann auch.

Sich kennenlernen (-8)
    Ich konnte mich austoben. »Egal wie es läuft, in ein paar Tagen trennen wir uns wieder.« In acht, um genau zu sein.
    Seit Michela und ich verlobt waren, hatte ich mir etwas angewöhnt. Ich schrieb ihr Briefchen und steckte sie ihr in die Handtasche, die Jacke, den Rock, die Hose oder ins Portemonnaie, klebte sie sogar an den Bildschirm ihres Laptops, damit sie sie entdeckte, wenn sie ihn aufklappte. Ich genoss es, frei auszudrücken, was ich empfand. Am Morgen hatte Michela mir den Wohnungsschlüssel gegeben, wir hatten ausgemacht, abends zu Hause zu essen, ich würde kochen. Den Einkauf erledigte ich bei Dean & Deluca Ecke Broadway und Prince Street. Ich musste mich zurückhalten, denn immer, wenn ich dorthin gehe, bekomme ich Lust, alles zu kaufen. Fisch, Desserts, Obst, Gemüse, Sachen fürs Haus. Ich kaufte nur, was ich zum Kochen brauchte, plus einen Strauß Blumen und eine Flasche Wein. Dann noch einen wasserlöslichen Filzstift, und ab nach Hause. Bevor ich eintrat, bemerkte ich auf der Fußmatte von Michelas Nachbarn eine lustige Aufschrift. Statt des üblichen Welcome stand dort: Oh no! Not you again!
    Ich lud die Einkäufe ab und machte einen Spaziergang. Es war seit langem das erste Mal, dass ich allein in eine ferne Stadt gereist war. Als junger Mann hatte ich das oft getan. Das erste Mal gleich nach dem Abitur. Nach London. Ich wollte gut Englisch lernen, mit meinen Schulkenntnissen war es nicht weit her. Es war meine erste Auslandserfahrung. Ich wollte allein zurechtkommen. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, doch zugleich schwang auch etwas mit, das ich noch nicht kannte: der Duft der Freiheit. Eine Art persönliche Herausforderung, eine geheime Prüfung, der ich mich stellen musste, als erwartete mich am Ende dieser Erfahrung etwas Wichtiges, ein point of no return, den ich überwinden musste. Etwas, das mich zum Mann machen würde. Es waren die Jahre des Erwachsenwerdens, in denen ich spürte, dass ich etwas unternehmen musste.
    Ein Hindusprichwort sagt: »Es liegt nichts Edles darin, einen anderen zu übertreffen. Wahre Größe besteht darin, dein früheres Ich zu übertreffen.«
    Letztendlich war das der Grund, weshalb ich in New York war.
    Die Reise nach London war eine der wichtigsten in meinem ganzen Leben gewesen. Ich landete auf dem Flughafen Heathrow, nachdem der Flieger wegen Triebwerksproblemen eine Zwischenlandung in der Schweiz eingelegt hatte. Vielleicht geht meine Flugangst ja auf diese Episode zurück. Jedenfalls kam ich mittags in London an, und um vier Uhr nachmittags hatte ich schon eine Arbeit gefunden: Tellerwäscher in einem Restaurant in der Nähe der Liverpool Station. Es war ein Freitag. Am Montag sollte ich anfangen. Ich hatte fast drei Tage Ferien.
    Zunächst empfand ich eine Art Euphorie, die mir half, mit den Anfangsschwierigkeiten fertigzuwerden, aber nach einer Weile ging es mir immer schlechter. Ich weinte jeden Tag. Ich weinte, aber ich wollte nicht nach Hause fahren. Ich fühlte mich allein, verletzlich, verloren in einer Welt, die mich nicht beachtete, die mich offenbar nicht wollte. Ich hatte mich schon immer, von klein auf, gefühlt wie jemand, der auf ein Fest geht, zu dem er nicht eingeladen ist. In London hatte dieses Gefühl in mir den Wunsch entstehen lassen, mir einen Platz zu erringen. Ich wollte teilhaben. Es ging mir schlecht, ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf der Welt, während meine Freunde am Meer waren und ihr ewig gleiches beschauliches Leben führten, das keine Risiken kannte. Oft fragte ich mich, warum ich so dumm gewesen war, als wollte ich mich bestrafen, wo ich doch das Leben hätte genießen sollen.
    Wieso gibst du nicht auf und fährst nach Hause zu deinen Freunden ans Meer?
    Diese Stimmen. Die Sirenen des Odysseus. Erst später begriff ich, dass das

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