Noch ein Tag und eine Nacht
Verlobung auf Zeit scheint mir der geeignete Weg, unsere Begegnung einmal anders zu leben. Ohne Zukunftsparanoia, ohne unsere ganze Vergangenheit zwischen uns zu haben.«
»Und was ist, wenn wir in den nächsten Tagen herausfinden, dass wir zu verschieden sind?«
»Ach, dann werden unsere Gespräche umso interessanter. Oder wir trennen uns.«
»Ja, oder wir schaffen es, die Unterschiede zu überwinden.«
An diesem Abend im Restaurant taten wir etwas, das ich sehr mag: Kommentare zu den anderen Paaren an den Tischen abgeben, sich ausmalen, in welcher Situation sie sich befinden, wie es um ihre Liebe bestellt ist, wie sie das Dasein als Paar gestalten. Herausfinden, wer von beiden der Verliebtere ist, wie lange sie schon zusammen sind und ob sie beide gern bei diesem Abendessen sitzen oder ob einer den anderen dazu drängen musste. Das macht Spaß. Silvia und ich spielen dieses Spielchen oft. Die besten Kommentare kommen immer, wenn das Paar sich anschweigt. Ich hab schon erlebt, dass zwei Menschen während des ganzen Essens nicht ein Wort miteinander gewechselt haben.
»Manche Paare sind echt traurig. Wieso trennen sie sich nicht?«
»Weil es ihnen allein meist noch schlechter geht als zusammen. Wie schade, dabei gibt es so viel Schönes in einer Zweierbeziehung.«
»Die Scheidung.«
»Und den Geliebten. Nein, ich mein’s ernst. Es gibt phantastische Paare. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man nicht in eine Rolle verfällt: Verlobter, Verlobte, Ehemann, Ehefrau.«
»Und was, bitte, ist am Paarsein schön?«
»Die Gemeinsamkeit, das Gefühl, zusammenzugehören. Ich zum Beispiel mag es, einen Menschen in- und auswendig zu kennen.«
»Einen Menschen in- und auswendig kennen, ehrlich? Und die Routine? Die Eintönigkeit? Was ist daran schön?«
»Nein, ich spreche nicht von Routine oder Eintönigkeit, sondern davon, einen Menschen in- und auswendig zu kennen. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, es ist wie in der Schule, wenn man ein Gedicht auswendig lernt. Das meine ich mit in- und auswendig.«
»Verstehe ich nicht.«
»Ach, komm schon, wie bei einem Gedicht. Weißt du, was in- und auswendig auf Englisch heißt? By heart, mit dem Herzen.«
»Im Französischen sagt man par cœur …«
»Siehst du, in diesem Sinn meine ich. Einen Menschen by heart, in- und auswendig kennen bedeutet, auch ein wenig von dem ihm eigenen Rhythmus aufzunehmen, wie wenn man ein Gedicht auswendig lernt. Gedichte und Menschen haben ihren eigenen Rhythmus. Deshalb bedeutet einen Menschen in- und auswendig kennen, den eigenen Herzschlag mit dem des anderen in Einklang zu bringen, sich von seinem Rhythmus durchdringen zu lassen. Das ist es, was mir daran gefällt. Ich bin gern nah mit einem Menschen zusammen, weil es dafür den Mut braucht, sich ein wenig von sich selbst zu entfernen. Sich ein bisschen zu verändern. Das Spannende an einer Zweierbeziehung ist für mich nicht, wenn beide sie selbst sind, sondern wenn sie den Mut haben, anders zu sein. Der zu sein, den du ohne den anderen nie kennenlernen würdest. Mir gefällt es, einen Menschen zu lieben und ihn wie ein Gedicht in- und auswendig zu kennen, weil man den anderen nie vollkommen begreifen kann, wie ein Gedicht. Ich habe gelernt, dass ich als Liebende nur mich selbst kennenlerne. Das Höchste, was man vom anderen verstehen kann, ist das Höchste, was man von sich selbst verstehen kann. Deshalb ist es so wichtig, eine intime Beziehung mit einem anderen einzugehen, weil es zu einer existenziellen Erkenntnisreise wird. Das, was deine Freundin Silvia mit den Türen meint, die man öffnen muss… Verstehst du?«
»Äh… Ja, ich glaube schon. Sag mal, was haben sie dir denn in den Wein getan? Ich bin ja schon kompliziert, aber du bist auch nicht ohne. Deshalb bist du mit niemandem zusammen, du bist ja wie Penelope, die darauf wartet, dass ihr Mann zurückkehrt.«
»Wenn’s nur so wäre. Es stimmt, sie hat gewartet, aber in ihrem Fall war der Rückkehrer ja auch Odysseus. Man kann sich denken, was sie für ihn empfunden hat. In seinen Armen. Bestimmt hat sie gespürt, dass er sie beobachtete, wenn sie ihm den Rücken zudrehte. Wenn sie zum Beispiel das Geschirr spülte und er am Tisch saß. Sie hat seinen Blick auf sich gespürt und dass er sie liebte. Sie hat sich von einem unsichtbaren Blick geliebt gefühlt. Wenn man heutzutage Jahre wartet, läuft man Gefahr, dass da auf einmal einer im Haus steht, der nicht mal einen Wasserhahn reparieren kann oder so
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