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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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mir im Hotel angekommen.
    Ich war hin- und hergerissen. Ich wusste nicht, was schlimmer war, die Tatsache, dass Oma vielleicht im Sterben lag, oder die bevorstehende Trennung von Michela. Und das auch noch einen Tag früher als geplant. Ich war noch nicht so weit, vermutlich wäre es am nächsten Tag auch nicht besser gewesen, aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, ernsthaft darüber nachzudenken. Wir gingen einen Kaffee trinken. Dann machten wir einen Spaziergang und setzten uns auf eine Bank am Hudson. Vor uns der Ozean.
    In diesen Tagen hatten wir so viel miteinander geredet, aber als wir nun auf dieser Bank saßen, in dem Augenblick, wo vielleicht viel mehr zu sagen gewesen wäre als all die anderen Male, verschlug es uns die Sprache. Schweigend sahen wir uns an, gespiegelt im Horizont vor uns. Der Zeitpunkt war gekommen, aus dem Traum zu erwachen, das Märchen war zu Ende. Der Augenblick, da Aschenputtel den Schuh verliert. Wir sagten fast nichts, weil es nichts zu sagen gab. Wir wussten beide, dass es richtig war, sich an die Spielregeln zu halten. Hätten wir unsere Beziehung weitergeführt, dann hätten wir uns zwar ab und zu gesehen, aber alles wäre ins Banale abgeglitten, irgendwie verpufft, was schlimmer als dieser Abschied gewesen wäre. So dachten wir jedenfalls in diesem Moment.
    Irgendwann sagte Michela: »Weißt du, Giacomo, für mich ist das alles eine ganz neue Erfahrung, so etwas habe ich noch nie erlebt. Einfach frei alles äußern zu können, was ich mir aus tiefstem Herzen wünschte, ohne Angst vor Missverständnissen. Ich brauchte nichts zu rechtfertigen oder zu erklären, weder Gefühle noch Handlungen, weder Gesten noch Worte. Den Weg hierhin, an diesen Ort, sind wir gemeinsam gegangen. Allein würde ich ihn nicht wiederfinden. Ich weiß auch nicht, wie ich wieder zurückfinden soll, in mein altes Leben, es gibt kein Zurück. Mein Herz sagt, dass ich mit einem anderen Menschen noch nie so etwas erlebt habe. Vor allem nicht in so kurzer Zeit… Mein Kopf hingegen… na, du weißt schon, was der denkt.«
    Während sie so sprach, hatte ich ihr Bild in der Straßenbahn vor Augen, als ich sie zum ersten Mal sah. Für mich war das stets wie ein Fenster mit Aussicht auf die schönen Dinge des Lebens gewesen.
    Wenn ich an die Szene dort auf der Bank denke, gibt es darin etliche Leerstellen. In meinem Kopf hat sich all das so verheddert, dass nur einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen hängengeblieben sind. Wie Blitze, Gewehrkugeln, Felsbrocken, die man ins Meer geworfen hat. Gesprochene Wortfetzen, gehörte Wortfetzen.
    »Jetzt müssen wir uns trennen… Es war schön… es würde nicht funktionieren… Du wohnst auf der anderen Seite des Ozeans… es ist besser so… für mich wirst du immer… es ist richtig so, auch wenn es weh tut… wir müssen glücklich sein… lass uns jetzt Abschied nehmen… es ist besser, wenn wir uns nicht anrufen…«
    Wir umarmten uns fest, so fest es ging. Wir weinten. Ich weinte um alles.
    Ich litt, konnte mich nicht losreißen. Ich litt, ich litt, ich litt.
    Oft führt das, was besser ist, nicht gerade dazu, dass es einem gutgeht.
    Ich drehte den Kopf nur, um sie zu küssen. Ich küsste ihr tränenüberströmtes Gesicht mit meinem tränenüberströmten Gesicht.
    »Bringst du mich noch ins Hotel?«
    »Ja, gehen wir.«
    Hand in Hand gingen wir schweigend nebeneinander her. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich das Leid eines anderen in mir. Ich litt für mich und für sie. Ihr Leid verursachte mein Leid. Am liebsten hätte ich ihr Leid auf mich genommen, um sie davon zu befreien. Dafür hätte ich mich in tausend Stücke gerissen, wie als Kind für meine Mutter.
    In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich wirklich verliebt war, aber im Sinn des englischen Ausdrucks: in love. Womöglich waren wir gar nicht so sehr ineinander verliebt, sondern in das, was uns vereinte. Wie zwei Jazzmusiker, die nicht die Liebe zueinander eint, sondern die Liebe zur Musik. Zu dem, was sie gemeinsam erschaffen. Während wir marschierten, fiel mir ein berühmter Satz ein, der besagt: »Die Liebe zwischen zwei Menschen besteht nicht darin, dass der eine den anderen ansieht, sondern dass beide in dieselbe Richtung sehen.«
    Als wir fast am Hotel waren, sagte Michela: »Ich kann nicht mehr. Entschuldige. Ich kann einfach nicht mehr, ich muss jetzt gehen.« Und dann hob sie die Hand, um ein Taxi heranzuwinken.
    »Warte, Michela, so kannst du doch nicht gehen… warte, ich

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