Noch ein Tag und eine Nacht
Michela war alles vollkommen anders gewesen.
Durch die Tablette war ich in einen tiefen Schlaf gefallen. Wie ein Kind, das sich in den Schlaf weint.
Als ich aufwachte, setzten wir bereits zur Landung an. Ich holte meinen Koffer ab. Aber sprechen konnte ich nicht. Wegen allem, auch wegen der Tablette, glaube ich. Am Ausgang erwartete mich ein Lächeln. Silvia.
Oma
Vom Flughafen fuhr ich direkt ins Krankenhaus. Oma lag im Bett, und daneben saß meine Mutter.
»Ciao.«
»Ciao.«
»Wie geht’s ihr?«
»Vor ein paar Stunden ist sie endlich eingeschlafen. Sie war die ganze Nacht wach. Manchmal sieht es so aus, als hätte sie gar nichts, manchmal redet sie wie ein Wasserfall oder stöhnt vor Schmerzen. Jedenfalls ist es nicht nötig, dass wir hierbleiben. Ich fahre jetzt mal nach Hause und komme dann wieder und übernehme die Nachtwache.«
Ich sah Oma beim Schlafen zu. »So ein Mist!«, dachte ich voller Zuneigung. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann brachte ich meine Mutter zu ihrem Auto.
»Wie war’s in New York?«
»Gut.«
»Wie geht’s dir?«
»Sehr gut. Hör mal, Mamma, ich kann die Nachtwache übernehmen, wenn du willst. Wegen der Zeitverschiebung fällt es mir nicht schwer, wach zu bleiben. Morgen früh kannst du dann übernehmen.«
»Nicht nötig. Ich habe zwar eine Menge zu tun, aber ich schaff das schon.«
»Ich meine es ernst, es ist doch Schwachsinn, wenn wir beide wach bleiben.«
»In Ordnung. Du müsstest gegen acht hier sein.«
Pünktlich um acht war ich wieder im Krankenhaus. Oma begrüßte mich, sogar mit meinem richtigen Namen. Ich gab ihr das Geschenk, das ich ihr mitgebracht hatte. Den Armreif. »Wie lieb von dir«, sagte sie. Das war ein Satz, den sie immer sagte, wenn ich etwas Nettes für sie tat.
Wir waren die ganze Nacht wach. Das heißt, sie machte ab und zu ein kleines Nickerchen und wachte dann wieder auf.
Wo war nur die Frau geblieben, die ich als Kind gekannt hatte? Obwohl sie ihr ähnlich sah, war die Frau hier vor mir nur noch ein Schatten ihrer selbst. Meine Großmutter war immer eine starke Frau gewesen, auf die man sich verlassen konnte. Früh verwitwet, hatte sie ganz allein zwei Töchter großgezogen, war immer arbeiten gegangen und hatte für alles gesorgt.
»Wie geht’s dir, Oma?«
Sie sah mich an, als hätte sie meine Frage gar nicht gehört.
»Weißt du noch, wie du immer zu mir gesagt hast: Da hab ich mich glatt aufs Ohr gehauen!«
»Wann hab ich das denn gesagt?«
»Als ich klein war, da bist du hochgeschreckt und hast dann gesagt, jetzt wärst du doch glatt eingeschlafen.«
Keine Antwort. Dann sagte sie: »Wenn du morgen kommst, bring mir die Ohrringe mit, die mit den Perlen. Sie sind in einer Schachtel in der großen Kommode, ganz hinten, unter den Unterhosen.«
»Was willst du denn mit den Ohrringen, Oma?«
»Ich brauche sie, weil Opa Alberto gestern zu mir gesagt hat, dass er bald wiederkommt.«
Ich war immer gerührt, wenn sie von Großvater erzählte.
»Wann hat er das gesagt?«
»Gestern, als er mich besucht hat.«
Früher hatte ich bei diesen komischen Bemerkungen manchmal versucht, ihr zu erklären, dass das nicht sein könne. Ich wollte sie zur Vernunft bringen und glaubte, sie dadurch aus ihrer Phantasiewelt herauszureißen. Aber dann habe ich begriffen, dass es besser ist, darauf einzugehen und sie zum Reden zu bringen.
»Hast du dich gefreut, als du ihn gesehen hast, Oma?«
»Natürlich. Er meinte, ich sähe wunderschön aus, und wenn er das sagt, dann glaube ich es auch, denn dein Großvater ist nicht irgendeiner. Er hat mir auch gesagt, ich soll mir die Ohrringe anstecken. Er meint, wenn ich sie trage, erinnert ihn das immer an den Tag, als er sie mir geschenkt hat.«
»Was hat er noch gesagt?«
»Nichts. Er war nur kurz hier. Da hat er gestanden, neben dem Stuhl, auf dem du jetzt sitzt, nur dass da deine Mutter gesessen hat. Die beiden haben mich angesehen. Er hat mir den Kopf gestreichelt. Dann hat deine Mutter angefangen zu weinen, und da ist er natürlich gegangen. Aber er hat gesagt, er käme wieder und würde mir auch ein Eis mitbringen.«
Plötzlich starrte sie mich an, als müsste sie mir die wichtigste Sache der Welt sagen.
»Was ist, Oma?«
»Ich würde wirklich gern ein Eis essen. Aber jetzt sofort, nicht erst, wenn Opa wiederkommt. Kannst du mir nicht eins holen?«
»Wo soll ich das um diese Uhrzeit hernehmen? Das geht nicht. Ich bring dir morgen eins mit. Immer noch schneller als Opa.«
Dann fiel mir
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