Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
Vom Netzwerk:
Krankenschwestern kamen herein, um das Bett zu machen, das übliche Hin und Her vor der Visite. Um sieben Uhr wachte Oma auf. Als das Frühstück kam, gab ich ihr einen Kuss und ging.
    »Bis heute Abend. Dann bringe ich dir die Ohrringe mit.«
    »Ciao, Giacomo.«
    Um acht lag ich in meinem Bett. Ich war todmüde. Zwischendurch wachte ich immer mal wieder auf und wusste zuerst gar nicht, wo ich war, bis ich das rote Lämpchen am Telefon erkannte.
    Als ich nachmittags aufwachte, erfuhr ich von meiner Mutter, dass Oma um zehn Uhr morgens gestorben war.

Mutter
    Meine Großmutter war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Umso überraschter war ich, als ich spürte, dass ich ihren Tod akzeptieren konnte. Ich empfand eine zutiefst wehmütige, zugleich aber gelassene Trauer. Tief in meinem Innern spürte ich ihre Zuneigung. Eine unvergängliche Zuneigung aus zahllosen kleinen Gesten, die unser Verhältnis schon immer zu etwas Besonderem gemacht hatten. Meine Großmutter war stets für mich da gewesen.
    Etwa zwei Wochen nach der Beerdigung nahmen meine Mutter und ich die Auflösung von Omas Wohnung in Angriff. Glücklicherweise haben meine Mutter und meine Tante ein gutes Verhältnis, so dass sie es nicht nötig hatten, sich gegenseitig zu bestehlen, wie es in ähnlichen Fällen oft vorkommt. Wie zum Beispiel bei der Nachbarin meiner Mutter, einer alten Dame von neunundachtzig Jahren, die schwerkrank ins Krankenhaus eingeliefert und von den Ärzten schon abgeschrieben worden war. Den Angehörigen teilte man mit, sie werde nicht überleben. Doch merkwürdigerweise erholte sich die Signora nach zwei Tagen, und als sie dann wieder nach Hause kam, hatten die Töchter ihre Wohnung bereits ausgeräumt. Unglaublich, aber wahr.
    In Omas Sachen zu wühlen und dabei stundenlang mit meiner Mutter auf Tuchfühlung zu sein bereitete mir Unbehagen. Außerdem kam ich mir beim Öffnen der Schubladen wie ein Eindringling vor, der in der Privatsphäre eines anderen herumschnüffelt. Das schien mir unangebracht. Nicht dass Oma irgendwelche großartigen Geheimnisse gehabt hätte. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde plötzlich tot umfallen, wer weiß, was meine Mutter wohl denken würde, wenn sie in meiner Wohnung Pornofilme, Vibratoren, Vaginalkugeln und Augenbinden fände und zu allem Überfluss noch mit Eis gefüllte Präservative im Kühlschrank. Plus das Video von Monica und mir beim Sex. Als ich nun die Schubladen öffnete, merkte ich, dass sich seit dem Tod meiner Großmutter etwas verändert hatte. Alles lag noch an seinem Platz, wo es seit Jahr und Tag gelegen hatte, und doch hatte sich alles verändert. In der Wäschekommode lagen die Unterhosen und BHs, riesige BHs mit einem Röschen in der Mitte. Das alles wanderte in den Sack für die Kleidersammlung, unbesehen und ohne nachzufragen.
    Darunter, in einer anderen Schublade, fand ich die Schachtel mit den Ohrringen.
    Ich fragte meine Mutter, ob ich sie behalten dürfe.
    »Ja, wenn du sie haben möchtest.«
    In der Schachtel lagen auch der Ehering meines Großvaters, seine Uhr und sein Rasierpinsel.
    Die ganze Zeit über vergoss meine Mutter keine einzige Träne, nicht mal auf der Beerdigung. Offenbar hatte sie sämtliche Tränen schon vergossen, als ich klein war. Eigentlich wollte sie auch nicht, dass ich ihr in der Wohnung half. Doch ich bestand darauf und sagte, ich täte das nicht für sie, sondern für Oma.
    Wir nahmen die Bilder von den Wänden und verpack-ten Teller, Gläser, Besteck und alles andere in Kartons. Ich räumte die Vitrine aus, in der die praktisch unbenutzten Mokkatässchen standen, ein paar Fotos meines Großvaters und Bonbonnieren von diversen Hochzeiten und Kommunionen. Auch die von meiner eigenen Kommunion: ein Kind mit Hündchen.
    »Soll ich einen Kaffee machen, Mama, möchtest du einen?«
    Seltsamerweise sagte sie ja, fügte aber gleich hinzu: »Ich mach schon, du kannst inzwischen weitermachen.« Typisch meine Mutter.
    Wenig später tranken wir in der Küche Kaffee. Ich im Sitzen, sie im Stehen.
    »Die Tässchen könntest du eigentlich behalten, die sind doch praktisch neu«, sagte ich zu ihr.
    »Ich glaube, ich behalte gar nichts, meine Wohnung ist schon voll. Ich bin gerade dabei, meine Küche neu zu machen, und ich habe schon alles gekauft, was ich brauche. Aber du, wie ist es mit dir, willst du außer den Ohrringen gar nichts haben? Mit deiner Tante habe ich schon gesprochen, sie will nur das Bild aus der Diele. Alles andere können wir

Weitere Kostenlose Bücher