Noch ein Tag und eine Nacht
ein, dass es im Krankenhaus vielleicht ja Eis aus Automaten gab. Ich erkundigte mich bei einer Krankenschwester, und sie sagte mir, unten am Eingang gebe es einen Automaten.
»Warte, Oma, ich gehe dir nur schnell ein Eis holen.«
Unterwegs dachte ich, dass es Oma doch nicht so schlecht gehen konnte, wenn sie sogar Lust auf Eis hatte, ja ich hatte den Eindruck, dass es ihr sogar besserging als noch vor einer Weile. Ich holte das Eis und ging wieder nach oben. Als ich ins Zimmer kam, schlief sie.
»Was mache ich jetzt, soll ich sie wecken oder lieber schlafen lassen?«, fragte ich mich.
Ich weckte sie.
»Oma, dein Eis.«
»Danke, Alberto. Entschuldige, aber die Ohrringe habe ich noch nicht bekommen.«
Jetzt war ich wieder Opa.
»Oma, ich bin Giacomo, dein Enkel.«
»Ich weiß, ich bin doch nicht verrückt.«
Sie aß das Eis, es war eins mit einem Holzstäbchen in der Mitte. Wie immer packte sie es nicht ganz aus, sondern schob nur das Papier nach unten wie eine Bananenschale. Das Holzstäbchen ließ sie eingepackt, wahrscheinlich um sich nicht die Finger schmutzig zu machen. Während sie das Eis aß, erzählte ich ihr von Michela.
»Weißt du, Oma, dass ich in den letzten Tagen viel gespielt habe, genauso wie du mir immer gesagt hast?«
»Gut gemacht, du sollst viel spielen. Nachher, das musst du mir versprechen, gehst du wieder zurück und spielst, gell? Aber nicht mit den Chinesen.«
»Ich verspreche es. Was hast du denn gegen die Chinesen?«
»Die sind böse, das weiß ich… Und, bist du froh?«
»Nicht so richtig, ich vermisse die Freundin, mit der ich gespielt habe, aber ich bin froh, dass ich mit ihr gespielt habe.«
Ich redete, und sie schaute auf ihr Eis. Als müsste sie sich überlegen, wo sie als Nächstes abbeißen sollte. Sie ließ es sich schmecken, wie ein kleines Mädchen.
Dann sagte sie: »Weißt du noch, Alberto, wie ich die Wollsachen für dich angezogen habe?«
Sie redete mit sich selbst, oder aber mein Großvater war wirklich da. Ein bisschen glaube ich an solche Dinge, deshalb lief es mir kalt über den Rücken. Die Geschichte mit den Wollsachen hatte sie mir schon Gott weiß wie oft erzählt. Weil Oma kräftiger war als Opa, zog sie jeden Samstag seine Wollunterwäsche an, damit sie sich weitete und vor allem weniger kratzte. Eine »altmodische« Form von Weichspüler.
Ich sah sie an, und um das Schweigen zu brechen, machte ich ein bisschen Smalltalk. »Wenn du so weitermachst, wirst du in ein paar Tagen entlassen.«
Sie starrte weiter auf das Eis, als wäre es das erste in ihrem Leben, und sagte dann: »Aber ich werde sterben. Du weißt doch, dass ich sterben werde?«
Diese Worte brachten mich aus dem Takt.
»Aber was redest du da?«
»Doch, doch. Ich esse noch das Eis, und dann sterbe ich. Ich weiß es.«
»Hör doch auf mit dem Unsinn.«
Sie starrte weiter auf ihr Eis, dann zuckte sie mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Ist ja auch egal.« Ihre skurrilen Einfälle waren für mich nichts Neues, aber diesmal bekam ich einen Schreck. Ich musste daran denken, was für merkwürdige Dinge den Menschen kurz vor ihrem Tod passieren. Ihre Worte machten mich panisch.
Dann sagte sie, immer noch in kindlichem Tonfall: »Du spürst einen Schmerz und bist froh, ich spüre keinen Schmerz mehr. Ich spüre gar nichts mehr. Und wenn du im Leben nichts mehr spürst, nicht einmal die Schmerzen, dann wartest du auf den Tod… Ich esse noch das Eis, und dann sterbe ich.«
»Hör auf damit, Oma.«
»Giacomo, sei so gut. Hilf mir, in Ruhe zu sterben, und stell dich nicht so an.«
»Wenn du so weitermachst, gehe ich.«
Wieder zuckte sie mit den Schultern. Ich bekam feuchte Augen.
Sie wirkte nicht nur wie ein kleines Mädchen, sie war es tatsächlich. In diesem weißen Nachthemd mit rosa Stickerei und einer kleinen Schleife in der Mitte sah sie so winzig und zart aus, dass ich, als ich ihr half, sich im Bett aufzusetzen, befürchtete, sie würde mir unter der Hand zerbrechen.
Sie aß ihr Eis auf und legte das Holzstäbchen auf den Nachttisch. Ängstlich beobachtete ich ihre Bewegungen, als könnte es jeden Moment so weit sein.
Es war jetzt schon eine Weile her, dass sie ihr Eis aufgegessen hatte, und sie lebte noch: »Verdammt noch mal, Oma, musstest du mir solche Angst einflößen?«
Ich blieb die ganze Nacht wach. Oma redete ein bisschen, schaute schweigend zum Fenster oder schlummerte ein Weilchen. Dann, frühmorgens, erwachte das Krankenhaus zum Leben, das Licht ging an, die
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