Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noch immer schwelt die Glut

Noch immer schwelt die Glut

Titel: Noch immer schwelt die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Robert
Vom Netzwerk:
sehen waren, weil die wenigen, die noch in Paris lebten, sich vor den nahenden Wirren aus der Stadt geflüchtet hatten.
    »Ich möchte schon, kann aber nicht!« rief ein Hauptmann mit Namen Marivaux.
    »Wohin würdet Ihr denn abziehen, Marivaux?« rief einer seiner ligistischen Freunde, der ihn erkannt hatte.
    »In den Louvre! Mit meinen Schweizern!«
    »Aber das wollen wir doch auch!« sagte ein Ligist. »Nur hier in Paris wollen wir euch nicht haben!«
    Diese Reden wurden diesseits wie jenseits der Barrikade so gut aufgenommen, daß beide Parteien Parlamentäre vorschickten, die sich darauf einigten, die Schweizer über die Rue Neuve und die Notre-Dame-Brücke abziehen zu lassen, damit sie drüben, entlang der Seine, zum Louvre marschieren konnten.
    Die Vernunft schien gesiegt zu haben, und die Schweizer setzten sich in Bewegung, an der Spitze Herr von Marivaux mit einem ligistischen Parlamentär, der ihm die Barrikaden öffnen sollte. Und neugierig, wie dieser kuriose Rückzug sich im aufständischen Paris wohl vollziehen würde, folgte ich ihnen, ebenso wie die Barrikadisten, unter die ich mich mischte und die übrigens in ihrem Freudentaumel darüber, daß sie die Truppen des Königs vertrieben hatten, ganz vergaßen, daß sie ihren Sieg dem Befehl des Königs verdankten, in keinem Fall auf sie zu schießen.
    Indessen erschien die erste Kolonne kaum in der Rue Neuve, als mehrere Bewohner besagter Straße, die mit Pistolen oder Arkebusen und mit Steinhaufen vor sich an den Fenstern standen, den Soldaten zuschrien, sie sollten ihre Lunten löschen, denn wie leicht konnte versehentlich ein Schuß losgehen und diesen oder jenen verletzen. Und als immer mehr Fenstergucker die Dringlichkeit dieser Aufforderung begriffen, schrie bald die ganze Rue Neuve wild durcheinander, was aber die armen Schweizer für Haßgeschrei hielten, das sie schier kopfscheu |437| machte, weil sie die Worte: »Löscht eure Lunten!« nicht verstanden, und diejenigen, die sie verstanden, konnten doch nicht gehorchen, ohne Befehl ihrer Offiziere zu haben, die weit vorne, am Kopf der Kolonne, marschierten. Zu alledem, Leser, mußt du wissen, daß an jenem 12. Mai eine fast unerträgliche Hitze herrschte, daß die Schweizer seit Tagesanbruch nichts getrunken, nichts gegessen hatten und daß sie, so tapfer sie sich im Felde auch mit erklärten Feinden schlugen, doch völlig vor denjenigen verzagten, gegen die der König sie hier einsetzte und auf die sie – es war der Gipfel – laut Befehl nicht schießen durften, ohne daß man ihnen auch befohlen hatte, ihre Lunten zu löschen.
    Wie nicht anders zu erwarten, löste sich in der verhungerten, verdursteten, entnervten Truppe ein ungewollter Schuß und tötete einen an seinem Fenster stehenden Bürger. Sofort schrie alles Rache, aus besagten Fenstern krachten sämtliche Feuerstöcke zugleich auf die armen Schweizer los, Hagel von Steinen und Ziegeln schlugen auf sie nieder, sie wurden geschlagen, beschossen, getroffen von oben, von hinten, von rechts und von links, und suchten sie Schutz unter einer Toreinfahrt, nahmen die Schützen der drübigen Häuserseite sie aufs Korn. Die Besonnensten warfen ihre Waffen weg, knieten sich aufs Pflaster nieder und schrien, ihre Rosenkränze schwenkend, erbärmlich: »Gute Schweizer! Gute Katholiken!«
    Ihre naiven Schreie, ihre Klagen, die geschwenkten Rosenkränze, das Wimmern der Verwundeten, die Leichen da und dort und all das vergossene Blut auf dem Pflaster rührten beim Volk endlich ein wenig Mitleid, und als die Soldaten zum Marché Neuf zurückfluteten, ließ man sie ziehen, ohne sie weiter zu molestieren und sich zu einer Metzelei herbeizulassen. Und wie es sich herumsprach, waren die Schweizer vom Saints-Innocents-Kirchhof und die vom Grève-Platz nicht viel besser dran, eingekesselt von Barrikaden und die einen ohne Brot, die anderen ohne Pulver.
    Nun entstand eine Art Ratlosigkeit, sowohl im aufständischen Volk wie bei den Ligisten, denn sie fühlten keinen Haß auf die Schweizer, die ja, außer durch Unfall, nicht geschossen hatten und nur die besoldeten Werkzeuge des Königs waren, die man weder für Royalisten halten konnte noch für »Politiker«, noch für Hugenotten, also wußte niemand recht, was man mit |438| ihnen machen sollte. Sie anzugreifen hatte man nicht das Herz, weil zu fürchten stand, daß sie am Ende doch feuerten, um ihre Haut zu retten.
    In dieser verworrenen und hochgespannten Situation stieg uns buchstäblich ein Deus ex

Weitere Kostenlose Bücher