Noch Viel Mehr Von Sie Und Er
Doktor, der uns Anfänger untersuchte, befand mich als zu dünn. Darauf ging ein Martyrium ungeahnten Ausmaßes los, denn meine Eltern entschieden, mich mit Lebertran anzureichern. Das Zeug schmeckte so ekelig, dass ich bei jedem Löffel tausend Tode starb und jeglichen Appetit verlor. Das löste automatisch meine zweite Diät aus, ich wurde noch dünner. Ich bekam eine Kur verordnet, und da ging die Quälerei mit verschärften Mitteln weiter, denn jeden Morgen sollte ich eine doppelte Portion Butter verdrücken. Mit einer Portion hatte ich schon genug Schwierigkeiten, und das wurde auch noch kontrolliert. Du glaubst gar nicht, wo man Butter überall hinschmieren kann, wenn man sie unbemerkt loswerden muss. Sie landete unter Tischen, Stühlen und Tellern, ich hab mir die Beine damit eingerieben, die Sandalen geölt und sie mir in die Haare geschmiert, bis nach ein paar Tagen endlich der heimliche Austausch von Butter zwischen denen, die zu viel, und denen, die zu wenig Gewicht hatten, florierte.« »Aber Zunehmen geht doch viel leichter als Abnehmen«, meinte sie. »Von wegen, glaub mir, meine Pein war genauso groß wie die der zum Abnehmen verurteilten Kinder. Dieser ganze Durchschnittswerte- und Gewichtstabellenmist hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Verordnetes Dicker- oder Dünnerwerden ist eine Tortur, die ich keinem wünsche, der nicht dringende gesundheitliche Gründe dafür hat.« »Aber Karl meint auch, ich wäre zu dick«, gab sie bekümmert zu bedenken. Karl, ihr Mann, hatte sich mit eiserner Disziplin zu einer Bohnenstangen-Lagerfeldkopie gehungert, der nur der Schwanz fehlte. Das Haupthaar trägt er rasiert. »Sag mal, hast du etwa ein schlechtes Gewissen dabei, dich sauwohl zu fühlen? Du bist wohl verrückt. Frag dich lieber, ob der Sex mit diesem Gerippe noch Spaß macht. Eine gewisse Schwere und ein bisschen Kraft und Ausdauer sind doch eigentlich ganz schön.« Sie musste lachen. »Sieh mal, Johanna, jedes Element, jeder Stoff auf dieser Erde hat sein spezifisches Gewicht, wie wir aus dem Physikunterricht wissen, und so ist das auch bei uns. Jeder Mensch hat sein eigenes spezifisches Gewicht. Wir sind doch keine Barbiepuppen vom Band. Wenn du das akzeptierst, dann ist Ruhe an der Gewichtsfront. Lang lebe das gottgegebene Eigengewicht«, schloss ich meinen Vortrag, und wir prosteten uns zu. Langsam schien ihr mein Fahrwasser sympathisch zu werden, aber dann stöckelte eine dürre Blonde an uns vorbei zum Büfett und wir sahen, dass Karl ihr auf den Knackarsch starrte. »Hast du schon mal von Trennkost gehört?«, fragte Johanna mich. »Johanna«, sagte ich, »ich kenne sogar einen Diät-Hardliner, der hat alles, was jemals an Diäten auf dem Markt war, am eigenen Leib ausprobiert, der hat Kalorientabellen verinnerlicht wie das kleine Einmaleins und kennt alle möglichen Verbrennungswerte besser als die Feuerwehr. Das hat ihm alles nichts genützt. Ich habe ihn mal auf einem Empfang getroffen, als er gerade auf Trennkost war. Da hat er das ihm gereichte Tablett mit leckersten Häppchen stundenlang blockiert, weil er erst alle Bestandteile nach ihrer Art analysieren und sortieren musste, um etwas zu finden, das den Trennkostvorschriften entsprach. Ich wäre fast verhungert und schlug ihm vor, es doch mit dem als Dekoration dienenden Zitronenscheibchen zu versuchen. Das fand der überhaupt nicht lustig. Mit einer Diät, egal welcher, versaust du dir nur drei bis vier Wochen deines Lebens. Bei ihm müssen das jetzt zusammengerechnet schon Jahre sein.« »Oh Gott«, stöhnte Johanna, »das klingt ja gar nicht lustig. Was macht der denn?«, fragte sie neugierig. »Er ist Komiker«, antwortete ich. »Aber ich denke, er hat mittlerweile gerafft, dass der berühmte Jojo-Effekt, wie er in der Diät-Lyrik genannt wird, ihm immer wieder die Tour vermasselt. Natürlich kannst du mit unerbittlicher Selbstgeißelung innerhalb von vier Wochen einige Kilos abnehmen, aber die hast du acht Wochen danach garantiert wieder drauf, wenn nicht sogar noch ein paar Pfunde mehr.« »Da liegt ja der Verdacht nahe, dass man, je öfter man Diäten macht, umso dicker wird«, resümierte sie erstaunt. »Genau so ist es. Schon Goethe sagte, das, worauf man achtet, wächst. Außerdem hat der Körper pausenlos eine Vielzahl von hochkomplizierten Vorgängen zu regeln. Dabei lässt er sich nicht gern ins Handwerk pfuschen und Traumfigur-Vorstellungen gehen ihm erst recht am Arsch vorbei. Darauf reagiert er empfindlicher als ein
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