Nochmal tanzen - Roman
ruft Mutter aus der Küche. Fleur zieht die Haustür hinter sich zu, streift die Schuhe ab. «Keinen Hunger.»
«Tut dir immer noch der Magen weh? Etwas Gemüse täte dir gut.»
«Was ist denn mit dir los?» Fleur bleibt im Türrahmen stehen. Mutter trägt geschnürte Sandalen mit hohen Absätzen, Augen und Lippen sind geschminkt.
«Gefällt es dir nicht?»
«Wie kannst du als emanzipierte Frau Schuhe tragen, auf denen du nur Schrittchen machen kannst?»
Mutter legt Besteck auf die Teller. «So hoch sind sie gar nicht. Willst du sie anprobieren?»
«Sicher nicht.»
«Wenn ich in der Stadt arbeiten will, kann ich nicht wie das Muttchen vom Land daherkommen.»
«Du bist doch Mutter.»
«Du weißt schon, was ich meine.»
Fleur füllt ein Glas mit Wasser und trinkt daraus. Arbeit in der Stadt. Das bedeutet, dass Mutter mit ihr pendelt. Sie sieht Mutter im Zug Michael gegenübersitzen und auf Kollegin machen. «Wo in der Stadt?», fragt sie scharf.
«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nicht länger im Gemeindehaus hocken und mich langweilen mag. Vielleicht besuche ich auch einen Weiterbildungskurs. Du brauchst mich ja nicht mehr lange.» Sie öffnet eine Schublade, legt Servietten zum Besteck.
Dass Mutter sich langweilt, sagt sie, seit sie dort arbeitet. Erst muss sie eine andere Stelle finden. Fleur sieht zu, wie sie sich nach einem Krug im Küchenschrank streckt. Wie fremd sie wirkt mit der dunklen Umrandung der Augen, den roten Lippen, den lackierten Zehen- und Fingernägeln. «Gibs zu, du hast einen Mann im Auge.»
«Nein, aber ich hätte nichts dagegen. Ich bin zu jung, um auf einen Partner zu verzichten. Was stört dich daran?»
«Nichts.» Sarah wäre entsetzt. Nagellack belaste die Umwelt und mache die Arbeiterinnen, die ihn produzierten krank, hielt sie einer Klassenkameradin vor. Hohe Absätze lehnte sie ab, weil sie Frauen zum Objekt von Männerfantasien machten. Sarah kaufte ihre Kleider secondhand oder in Weltläden. Am liebsten ungebügelte Männerhemden, Jeans und Ballerinas.
Die Mutter blickt in den Ofen. «Das Essen ist fertig.»
Fleur trägt das Geschirr ins Wohnzimmer, deckt den Tisch. «Damit eines klar ist: Wenn du einen Mann nach Hause bringst, soll er nicht auf die Idee kommen, mich zu erziehen.»
Mutter stellt die Schale mit den gefüllten Zucchetti auf einen Untersetzer, schöpft. «Heute und morgen wird keiner auftauchen. Die Männer, die ich gut finde, sind alle vergeben.» Sie setzt sich, legt eine Serviette auf ihren Schoß. «Außerdem suche ich keinen Erzieher für dich, sondern einen Partner für mich. Dein Vater hat sich übrigens nach dir erkundigt. Guten Appetit.»
«Aha.» Fleur schneidet ein Stück Gemüse ab und schiebt es sich in den Mund.
«Warum so grimmig?»
«Ich bin nicht grimmig.»
«Doch, schon die ganze Zeit. Was ist los?»
Fleur kaut.
«Ich spüre doch, dass dich etwas bedrückt. Ist es der Stress in der Schule? Oder Sarah?» Mutter schaut sie an.
Fleur starrt auf ihren Teller, kaut.
«Ich möchte dir helfen, Fleur. Es macht mich traurig, wenn du nicht mit mir sprichst.»
«Ach, und IHR erzählt mir alles? Hast du gewusst, dass Papa eine Freundin hat?»
«Nein. Wie kommst du darauf?»
«Ich habe ihn knutschen sehn.»
Mutter lässt die Gabel sinken. Fleur blickt weg. Mutter steht auf, geht um den Tisch und drückt Fleurs Kopf an ihre Brust. «Du bleibst seine Tochter.»
«Ich habe gewusst, dass du mich nicht verstehst.» Fleur reißt sich aus der Umarmung, schlüpft im Flur in ihre Schuhe und stürmt aus der Wohnung. Bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, hört sie Mutter rufen: «Ich verstehe dich besser, als mir lieb ist.»
Vor dem Haus weicht Fleur einem Nachbarn aus, der ihr einen guten Abend wünscht. Sie rennt durchs Dorf, Richtung Wehr. Auf dem Landwirtschaftsweg führt eine Frau ihren Hund spazieren. Fleur grüßt beim Überholen, damit der Hund nicht erschrickt. «Fuß», sagt die Frau. Fleur stampft an den Apfelbäumen vorbei. Vater lügt sie an, Mutter verteidigt ihn. Ich verstehe dich. Ha! Mutter hat keine Ahnung. Keine Ahnung hat sie. Trippelt auf hohen Absätzen herum, macht auf sexy und wartet darauf, dass Fleur auszieht, damit sie Liebhaber nach Hause nehmen kann. Fleur liest Kieselsteine auf und schleudert jeden einzeln in die Wiese.
Auf der Brücke über dem Wehr reißt das Wasser ihren Blick in die Tiefe. Der Ball ist weg. Sie schreit ins Rauschen. Vor ihren Augen schäumt es.
Sie kehrt erst um, als es einnachtet.
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