Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
verrückt. Hör zu, sobald ich zurück bin, rufe ich dich an. Solange pass auf dich auf. Wenn du die Visionen vermeiden kannst, dann vermeide sie.“
Unmöglich. Aussichtslos. Und doch murmelte sie ein „Ich versuch ’ s“ in den Hörer.
Leg nicht auf! Bitte bleib bei mir. Lass mich zu dir kommen. Leg nicht auf …
„Bis nächste Woche. Machs gut, Sara. Für den Notfall hast du ja Isa bel las Nummer.“
„In Ordnung“, zwang sie sich zu sagen. „Bis bald.“
Viel zu schnell legte er auf. Mechanisch tat Sara, was getan werden musste, und vermied jedes Denken. Sie druckte den überarbeiteten Art i kel aus, legte ihn in den Hefter und machte sich auf den Weg in Ruths Büro. Gesichter glitten wie Gespenster an ihr vorbei. Visionen … Wi e dergeburten … frühere Leben … aus dem Nichts auftauchende Wu n den … Schnitte, Messerstiche, zerkratzte Hände. Mein Gott, wo waren sie da hineingeraten ? Das konnte nicht gut e n den. Selbst Makah, der naturgemäß mit Visionen und Geheimnissen vertrauter war als sie, besaß keine Kontrolle über das, was geschah.
Und war gerade auf dem Weg zum Krankenhaus.
Große Scheiße.
In Ruths Büro legte sie den Hefter auf den Tisch und drehte sich auf dem Absatz wieder um.
„Alles okay?“ fragte ihre Chefin.
„Ja. Bin nur müde.“
„Mach für heute Schluss, okay? Morgen wird ein anstrengender Tag. Drei Projekte wurden vorverlegt. Die Druckfahnen müssen Montag raus. Außerdem ist das Lektorat für den Patagonien-Reisebericht seit einer Woche überfällig.“
Sara schloss die Augen und atmete tief durch. Was Ruths Worte b e deuteten, war sonnenklar. Wochenendarbeit. Im schlimmsten Fall vie r undzwanzig-Stunden-Schichten.
„Gut“, presste sie hervor. „Bis morgen früh.“
Sara kehrte in ihr Büro zurück, schnappte sich die Tasche und flücht e te. Raus aus dem Gebäude. Raus aus der Stadt. Raus aus der Wirklic h keit.
Naduah, 1844
„S
ie besaß schon immer viel Temperament“, wusste Huka zu berichten. „Weißt du noch, als unserem Propheten die Taube vor die Füße fiel?“
„Oh ja.“ Mahto schlug sich auf die Schenkel. „Es war vor sechs Ja h ren. Unser Prophet, den alle nur Eule nannten, stand vor seinem Tipi und gab seinen Morgengesang zum Besten. Dabei fiel ihm eine tote Taube vor die Füße. Er hob sie auf und tat kund, dass ein großes Ze i chen über das Dorf gekommen sei. ‚Was bedeutet es? ‘, verlangte man zu wissen. ‚Sag uns schon, was es bedeutet! ‘
Eule tat nichts, außer die Taube bedeutungsvoll hin und her zu drehen, leise Grunzer auszustoßen und die Stirn krauszuziehen . Erst, als sich das ganze Dorf in heller Aufregung um ihn versammelt hatte, ließ er sich zu einer Antwort herab.
‚ Ich weiß, was dieses Zeichen bedeutet ‘ , sagte Eule feierlich und ernst. Danach verstummte er wieder. So lange starrte er die Taube an, bis die Menge wütend wurde.
‚Sag uns endlich, was es bedeutet ‘ , forderten sie. ‚Wir wollen wissen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. ‘
Eule nickte und grunzte. Er nickte und grunzte noch eine ganze Weile, bis er sich straffte, die Taube hochhob und mit ernstem Gesicht verkü n dete: ‚ Ich weiß, was das Zeichen bedeutet. Aber der Große Geist hat sich soeben dazu entschieden, dass ihr es selbst herausfinden müsst. ‘ “
Mahto hob die Arme und ließ sie wieder fallen. Huka schüttelte sich vor Lachen.
„Könnt ihr euch die Gesichter vorstellen?“ Sie kicherte. „Es gab nicht wenige, die Eule am liebsten in der Luft zerrissen hätten. Den ga n zen Tag lang hörte man Flüche und Verwünschungen, aber Naduah gab sich damit nicht zufrieden. Sie ging zusammen mit zwei Freundinnen zum Zelt unserer Eule, stellte sich davor auf und rief, dass er nur aus einem Grund nichts verraten habe. Nämlich, weil er selbst keine Ahnung hätte, was die Taube bedeutet.“
„Ist Eule jemals darüber hinweggekommen ?“ fragte Nocona.
„Sicher“, antwortete Huka. „Aber es dauerte seine Zeit. Um seine E h re wiederherzustellen, wollte er Naduah an Ort und Stelle verprügeln. Aber Eule war damals schon alt und unsere Tochter flinker als ein Ant i lopenhase.“
„Das glaube ich gern .“ Nocona warf den wartenden Hunden ein Fleischstück zu. „Mir kommt der Verdacht, dass ich mich auf eine Ber g löwin einlasse.“
Mahto setzte eine D a -kannst-du-sicher-sein-Miene auf, Huka zuckte bedeutungsvoll mit den Schultern.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge. D er Häuptling der
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