Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
der Hintern den meisten dermaßen wehtat, dass Sitzen auf Dauer unerträglich war. Man aß den Eintopf, schwor pflichtschuldigst, nie etwas Besseres gegessen zu haben, tauschte ein paar Floskeln aus und verkroch sich in den Zelten, sobald es Nacht geworden war.
Makah blieb am Feuer sitzen, sah in die Sterne hinauf und genoss die einkehrende Ruhe. Der Wind roch nach Frost und alten Zeiten. Die Bäume raunten ihr ewig gleiches Lied. So viel hatte sich in diesem Land geändert, aber manche Dinge waren von tröstlicher Dauerha f tigkeit. Morgen würde er eine Stelle aufsuchen, die ihm den letzten B e weis für die Echtheit seiner Visionen liefern würde, auch wenn er de r gleichen nicht mehr brauchte. Dennoch wollte er etwas, dass er berühren konnte. E t was Greifbares, das den modernen Vernunftmenschen in ihm restlos übe r zeugte. In der Entfernung eines halben Tagesrittes musste sich, wenn er seinen Erinnerungen trauen konnte, ein Felsen befinden. Und auf diesem Felsen befanden sich Zeichnungen, die er vor einhundertsiebzig Jahren dort ve r ewigt hatte.
Kalte Böen erfassten sein Haar und wirbelten Funken in den Nach t himmel hinauf. Er holte eine Decke aus dem Gepäck, zog sie um seine Schultern und starrte auf sein rechtes Handgelenk. Narben zogen sich darüber. Blasse, welkende Spuren eines alten Lebens . Ve r bindungsglieder im Netz der Zeit. Er verweigerte sich den Bildern und Emotionen, die auf ihn einströmen wollten. Nicht jetzt. Niemals wieder.
Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Atem der Nacht. Hier und da erklang leises Tuscheln. Jemand steckte den Kopf aus seinem Zelt, wohl eine der Frauen, die auf ein romantisches Abenteuer hofften. Er lehnte sich gegen den Baumstamm und hielt seine Augen geschlossen. Ein leises ‚ D as bringt nichts, ich glaube, er ist genauso kaputt wie wir ‘ , wisperte durch die Stille.
Makah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Auf gewisse Weise mochte er sie, die Städter, die hier draußen lernten, die Zeit zu vergessen. Ging ein Wanderritt zu Ende, empfand er ehrliches Mitleid, denn viele vera b schiede te n sich unter Tränen von ihm, den Pferden und dem Land.
Schwerelos vor Müdigkeit ließ er seinen Geist aufsteigen. Die Visionen k a men fast unmittelbar. Er ließ zu, dass sie ihn umfingen, umgarnten und mit sich nahmen. Der scharfe Frost einer Winte r nacht biss in seine Haut, doch schlimmer war das verlangende Ziehen in d en Lenden. Du n kelheit kam und ging. Das Netz der Zeit ordn e te sich neu. Er saß nicht mehr an einem Feuer am Fuße der Wichita Mountains, sondern stand vor einem Zelt. Nad u ahs Zelt.
Nocona, 1844
S
chmerzte Sehnsucht nicht schlimmer als jede körperliche Wunde? Vergiftete sie nicht den Geist, bis man an nichts a n deres mehr denken konnte, bis man sich nach nichts and e rem verzehrte als nach dem einen Wesen, das den Keim gepflanzt hatte?
Noconas Hand ruhte auf dem Leder der Tipiwand. In einem Anfall von Verzweiflung schloss er die Augen und grub die Zähne in seine Unterlippe, so fest, dass er Blut schmeckte. Er glaubte, Naduahs Her z schlag zu hören. Er spürte die sanften Bewegungen ihres Körpers, wenn sie atmete oder sich im Schlaf r e kelte . Er witterte ihre Weiblic h keit, ihr Verlangen. Vielleicht träumte sie davon, dass er sie mit einem Kuss weckte, sie in die Nacht hinausführte und mit in sein Zelt nahm.
Sein Körper war ausgehungert. Und brannte lichterloh.
Unsichtbare Wunden brachen auf und fluteten seine Seele mit Zorn. Sorgsam Vergrabenes floss hervor wie Blut aus einem tödlichen Stich. Erinnerungen kratzten über die dünne Narbenschicht seines Verstandes und lechzten danach, ihn erneut zu zerfetzen.
Er fürchtete sich davor, das Ungeheuer nicht beher r schen zu können. Man hatte Kehala und ihm die Fähigkeit geraubt, sich furchtlos der Liebe hinzugeben. Was vergiftete das Leben nachhaltiger? Er musste die D ä monen besiegen, bevor er Naduah zu sich nahm. Er musste einen Weg finden, sein altes, im Sterben liegendes Leben endgü l tig zu vernichten.
Alles sollte sein wie in seinem Traum. Im Delirium des Sonnenta n zes war ihm Ptesawin ein zweites Mal erschienen, wieder in Gestalt der kin d lichen Naduah. Sie hatte ihm zugeflüstert, was er tun musste.
„Wirf deinen Namen nicht weg, Wanderer. Gib dir keinen neuen. Er wird in die Ewigkeit eingehen und unsterblich werden. Geh und bringe Mahto hundert Pferde. Hundert Pferde. Keines weniger.“
Nocona kehrte zu seinem Zelt zurück und tauschte die
Weitere Kostenlose Bücher