Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Schwester“, verkündete er mit ernster Miene. „Ich würde meiner Frau niemals etwas zuleide tun. Es sei denn, sie ehrt mich nicht in gebührlicher Weise. Oder sie verbrennt mein Essen. Oder sie wärmt mein Lager nicht vor.“
Naduah und Kehala kicherten und tauschten vielsagende Blicke. Blitzschnell griff das Mädchen in den Schnee, nahm eine Handvoll und warf sie in das Gesicht ihres Bruders. Eine wilde Schlacht entbrannte, bis Kehala sich mit Knuffen und Tritten aus dem knurrenden und lachenden Knäul befreite. Naduah blinzelte den Schnee aus den Augen und sah, wie Noconas Schwester sich aufrappelte.
„Seht mal!“ Das Mädchen beschattete ihr Gesicht mit einer Hand. „Da kommt jemand. Und es ist kein Nunumu.“
Schleunigst war das Spiel vergessen. Sie klopften den Schnee von ihren Kleidern und blickten nach Osten, dorthin, wo sich die Hügel in nicht mehr auszumachender Ferne verloren. In jener Himmelsrichtung fiel das Land lang gezogen ab und schwang sich zum Horizont in einer sanften Welle empor, sodass der Blick schier ins Unendliche glitt. Ein winziger Punkt bewegte sich durch das gewellte Weiß auf sie zu.
„Er reitet wie einer aus dem Volk.“ Nocona kniff die Augen zusammen, was seinem Gesicht etwas Raubvogelhaftes verlieh. „Aber etwas ist nicht so, wie es sein sollte.“
„Er ist allein“, stellte Kehala fest. „Sieht so aus, als wollte man ihn begrüßen.“
Eine Gruppe Krieger war gerade im Begriff, sich auf die Pferde zu schwingen. Man ging nicht von der Harmlosigkeit des Besuchers aus und trug Lanzen, Bögen und Äxte bei sich, um für den Fall, dass sich der Mann als Feind entpuppte, schnell die passende Meinung kundtun zu können, die meistens darin bestand, ihn bewusstlos zu schlagen und den Frauen zum Foltern zu überreichen.
„Er trägt nicht die Kleidung des Volkes.“ Nocona schloss seine schreckensstarre Schwester in die Arme. Kälte trat in seinen Blick und legte einen harten, fremden Klang in seine Stimme. „Aber ich sehe zwei mit Otterfell umwickelte Zöpfe.“
„Diese Augen sind nicht menschlich“, brummte Naduah. „Dein wahrer Vater muss ein Adler sein.“
Nocona reagierte nicht. Der herannahende Reiter nahm ihn völlig gefangen. So verbissen sie auch spähte, die Gestalt blieb für sie auf diese Entfernung ohne Details. Argwohn stieg in ihr auf. Ein solch überraschender Besuch bedeutete selten Gutes. Warum trug er die Kleidung der Weißen, wenn es einer aus dem Volk war? Was suchte er hier?
„Er hat es eilig“, sagte Nocona. „Sehr sogar. Was immer er zu berichten hat, es scheint dringend zu sein.“
Gemeinsam verfolgten sie, wie der Reiter näher kam. Naduah schmiegte sich an die Brust ihres Mannes, denn das eisige Gefühl in ihrem Bauch nahm zu und verstärkte sich zu der Gewissheit, dass der Besucher schlechte Nachrichten brachte. Nocona hingegen, sichtlich zufrieden mit seiner Beschützerrolle, blickte von einer zur anderen.
„Keine Sorge, meine Täubchen. Wenn er euch etwas antun will, zerteile ich ihn in hundert Stücke, noch ehe er schreien kann.“
Inzwischen hatten die Krieger den Mann erreicht. Sie umzingelten ihn, zerrten ihn vom Pferd und fielen, als er am Boden lag, wie Wölfe über ihn her. Selbst aus der Ferne drang das Geschrei und Geheul deutlich an ihre Ohren.
„Was tun sie mit ihm?“ wisperte Naduah.
„Vielleicht skalpieren sie ihn.“ Kehalas Augen funkelten mitleidlos. „Oder sie schneiden ihm Hände und Füße ab, wenn es ein Weißer ist. Ich hoffe, er überlebt es.“
„Damit er drei Tage euch Frauen gehört?“ Nocona schnalzte mit der Zunge. „In keinen anderen Dingen entwickelt ihr so viel Fantasie, wie wenn es darum geht, Männer zu foltern.“
„Weil ihr es meistens verdient habt“, blaffte Kehala zurück. „In all eurer niederträchtigen, gewaltsamen, gefühllosen …“
„Schon gut“, fiel er ihr ins Wort und zog sie mit einem Ruck noch fester an sich. „Deine Kritik kam an. Ich gehe mich schämen, sobald sich das Geheimnis unseres Besuchers geklärt hat.“
Kehala brummte etwas Unverständliches, während ein schiefes Grinsen ihren harten Gesichtsausdruck aufweichte. Wie gebannt beobachteten sie den fremden Besucher, der sich inzwischen erfolgreich aus der Kriegermeute freigekämpft hatte und wild gestikulierend zurücktaumelte. Offenbar noch in Besitz seiner Hände und Füße. Rüde schubste ihn ein Mann gegen sein Pferd und deutete auf den Sattel, eine Aufforderung, die der Fremde augenblicklich
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