Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
über sein Haar. Im sepiafarbenen Schein des Wintermorgens besaß es den Schimmer blasser Bronze. An der Seite seines Halses prangte eine punktförmige Narbe, die von der glühenden Spitze eines Schürhakens herrührte. Sie erinnerte sich. Mein Gott, sie erinnerte sich. Aber das konnte doch nicht sein.
„Ich bin John.“ Der Mann öffnete seine Arme. „Ich bin dein Bruder. Der, der Tiere aus Stöckchen legte, als unser weißes Leben endete. Ich bin gekommen, um meine verlorene Schwester wiederzusehen. Und um euch zu warnen.“
Sie konnte sich nicht regen. Konnte nichts sagen, nichts fühlen. Er war ihr kleiner Bruder. Er war John. Der Junge, den sie verloren geglaubt hatte. Der engelhafte Junge, den sie immer hatte beschützen wollen.
„Zu warnen?“ Noconas Stimme durchdrang ihre Benommenheit. In seinen Augen loderte Wut. Naduah wusste, dass allein ihre Gegenwart seine Dämonen im Zaum hielt. In der Vertiefung seiner Kehle pochte es wild, seine Augen verengten sich zu schmalen, hasserfüllten Schlitzen. „Wovor willst du uns warnen?“
„Tu ihm nichts!“, flüsterte sie ihm zu. „Bitte.“
Nocona rang sich zu einem knappen Nicken durch. Naduah strich ihm zart über die Schulter, zum Zeichen, dass alles in Ordnung war, dann zwang sie ihren Körper einen Schritt nach vorn.
Ihr kleiner Bruder war zurückgekehrt. John war wieder bei ihr.
In seinen Augen schimmerten Tränen, als sie langsam, Stück für Stück, ihre Arme nach ihm ausstreckte. Alles stand still in jenem unwirklichen Moment, da sie sich in die Arme schlossen. So lange her war es, dass sie ihn umarmt hatte. So lange hatte sie seinen Geruch nicht mehr eingeatmet. Er roch noch genauso wie damals, und obwohl er ein erwachsener Mann geworden war, stattlich und groß, kehrte er wieder, der Drang, ihn vor allem Bösen zu beschützen.
„Wie geht es dir?“ Naduah sah sein Gesicht nur verschwommen. Bäche aus Tränen rollten über ihre Wangen. „Was ist passiert? Erzähl mir alles, kleiner Bruder.“
Großer Geist, es musste ein Geschenk des Schicksals sein. Er kam zu ihr am glücklichsten Tag ihres Lebens. Doch hinter der Wiedersehensfreude lag etwas Bitteres in seinen Augen, und Naduah begriff, dass sie für das Geschenk einen hohen Preis bezahlen musste.
„Ich komme aus der großen Stadt im Osten.“ John hielt sie an beiden Schultern und blickte ihr fest in die Augen. Ungläubiges Staunen leuchtete in seinen Augen, die größer und größer wurden, während er sie ansah. „Nach einer Serie von Überfällen der Cheyenne hat man schwer bewaffnete Rangertrupps losgeschickt, um eure Dörfer zu zerstören.“
Zu gern hätte sie diese Nachricht ausgeblendet. Sie wollte sich freuen, ihn zu sehen. Einfach nur in dem Glück des Wiedersehens baden. Sein flachsfarbenes Haar, seine blauen Augen, sein Lächeln. Doch er war nicht nur gekommen, um sie wiederzufinden. Der wahre Grund seines Kommens war viel bitterer.
„Hört zu, es ist wirklich wichtig.“ John holte tief Luft. „Die Lage ist ziemlich … wie soll ich sagen … problematisch geworden. Um nicht stärkere Ausdrücke zu bemühen.“
Nocona schnaufte verächtlich. „Das war sie schon immer. Wir brauchen kein Gelbes Haar, um zu wissen, dass der Frieden nicht echt ist.“
Naduah spürte seinen ungemilderten Hass, legte eine Hand auf seine Wange und blickte ihn flehend an. „Er ist mein Bruder, Nocona. Liebe ihn, wie du mich liebst.“
Aus seiner Kehle kam ein unerwartetes, lautes Lachen. „Also gut, Bruder meiner Frau. Zieh dich aus und komm mit in mein Zelt, damit ich dich liebe, wie ich deine Schwester liebe.“
Naduah stieß ihn entrüstet in die Rippen. „Lass den Unsinn. Und hör auf, ihn anzustarren, als wolltest du seine Leber essen.“
„Wer sagt, dass ich das nicht will?“
„Du hast gehört, was er zu sagen hat. Er ist gekommen, um uns zu warnen.“
„Ja, genau!“ John verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör. „Deswegen bin ich hier. Ich muss mit euch reden. Es ist wirklich wichtig.“
„Also gut.“ Nocona zog einen Mundwinkel nach oben und drückte damit auf unnachahmliche Weise eine Mischung aus Verächtlichkeit und widerwilliger Rücksichtnahme aus. „Dann rede. Deine Leber kann ich später immer noch essen.“
John lächelte dankbar, holte Luft und begann zu berichten: „Nicht alle Überfälle sind auf die Cheyenne zurückzuführen, müsst ihr wissen. Horden von weißen Dieben und Mördern machen sich den Krieg zunutze. Sie plündern, vergewaltigen und
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