Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
verdiente er mit seinem Stand in zwölf Stunden mehr als in einem ganzen Monat, den er mit Reparaturen und Rancharbeit verbrachte. Erstens war es eine ang e nehme Arbeit, zweitens gab sie ihm das Gefühl, die alten Zeiten seien nicht gänzlich vergessen. Es fühlte sich richtig an. Es war richtig, beim Geruch von Birkenpech, Holz und Rauch in den Tag hinein zu arbeiten. Es war richtig, nach uralten Traditionen wunderschöne Dinge zu e r schaffen, und es war richtig, dass seine Jeans vor Teer starrte und die Haare ihm wirr und zerzaust über das dreckige, einstmals weiße T-Shirt fielen. Obwohl er erst seit ein paar Stunden auf den Beinen war, kroch ihm schon wieder die Müdigkeit in die Knochen. Es war keine gewöhnl i che Müdigkeit, sondern der Lockruf der Visionen. Er spürte, dass sie auf ihn warteten. Nocona und Kehala würden nicht im Schnee sterben. Der Grund für die Vorahnung lauernder Grausamkeit lag nicht im Gebirge. Nicht in Schnee, Eis und frostglitzernden Felshöhlen. Wäre nicht so viel Arbeit zu erledigen gewesen, hätte er sich an Ort und Stelle hingelegt und wäre in die andere Wirklichkeit gegangen. Aber zuerst verlangte die G e genwart seine Aufmerksamkeit.
Während er arbeitete, schmolz draußen der Schnee mit einer Schne l ligkeit, als woll t e die Natur ihre in den Wochen zuvor gezeigte Härte reumütig ausgleichen. Die ersten Vögel erwachten aus ihrem Winte r schlaf. Ihr Gezwitscher erfüllte den dunstigen Tag.
Makah trank einen Schluck Aronia-Saft, der besser als jedes Medik a ment für Ruhe und Ausgeglichenheit sorgte. Er streckte sich ausgiebig, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und nahm den nächsten Schwung Pfeile in Angriff. Behutsam steckte er eine Spitze nach der anderen auf. Über dem Feuer blubberte der Birkenteer und verströmte sein angenehmes Aroma. Durch die offen stehende Schu p pentür sah er Cezi ausgelassen in seinem Korral herumspringen, wä h rend Sam und Goliath gegenseitige Körperpflege betrieben und sich die Kruppen beknabberten. Später würde sicher noch Zeit für einen Ausritt bleiben. Vielleicht sollte er erst morgen früh zurückkehren und die Nacht irgendwo dort draußen verbringen. Am Feuer, unter den Sternen. E in verlockender Gedanke. Es war ewig her, dass er das letzte Mal auf alten Pfaden gegangen war.
Er hielt sich an diesem Gedanken fest und arbeitete weiter. Ein Pfeil nach dem anderen. Danach die Rahmen für die neuen Traumfänger, gefolgt von einem Zedernholzblock, in dem eine noch unsichtbare Figur verborgen lag und freigelassen werden wollte. Eine halbe Stunde lang kreiste er um das Holz herum, blieb stehen, kratzte sich am Hinterkopf und ging weiter, so lange, bis die Figur langsam vor seinem inneren Auge auftauchte.
Eine drohend aufgerichtete Klapperschlange. Nicht besonders orig i nell, aber ausschlaggebend war, was man am Ende daraus machte.
Es ging auf späten Mittag zu – inzwischen hatte er den Kopf der Schlange grob aus dem Block geschnitzt – , als ein klappriger , froschgr ü ner Wagen auf sein Haus zurumpelte. George mit seiner Frau Anna. Makah legte das Schnitzmesser beiseite, beschattete seine Augen mit der flachen Hand und trat aus dem Schuppen. Seit Monaten hatten die be i den ihn nicht mehr gemeinsam besucht.
Die Sonne brannte von einem wasserblauen Himmel. Schweiß lief ihm in den Nacken. Kein gutes Zeichen. Wetterumschwünge von solcher Heftigkeit, noch dazu innerhalb weniger Stunden, brachten Unwetter mit sich. Tornados zum Beispiel, die binnen weniger Minuten ganze Dörfer und Kleinstädte dem Erdboden gleichmachten . Ganz zu schweigen von Häusern und Schuppen, die nur notdürftig zusammengeflickt waren.
Makah sah den beiden Alten zu, wie sie aus ihrem Wagen kletterten. Anna watschelte freudestrahlend auf ihn zu, George hielt sich mit höfl i chem Lächeln im Hintergrund. Zumindest bisher war alles wie eh und je.
„Wie geht es dir, mein Junge?“ Sie umarmte ihn mit solcher Inbrunst, als wollte sie ihn nicht begrüßen, sondern durch Luftabschnüren töten. „Lange nicht gesehen. Gut siehst du aus. Kein Wunder, dass dir die Frauen nachsteigen.“
Er schob Anna behutsam von sich und schnappte nach Luft. „Ich wollte euch besuchen, ehrlich. Aber ich wusste vor lauter Arbeit nicht, wo mir der Kopf steht. Pro Tag müssen gefühlte zwanzig Dächer eing e brochen sein.“
„Der Winter hat uns schwer erwischt.“ Anna wiegte den Kopf von links nach rechts. Ihr Zopf schlang sich wie eine silberne
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