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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ballte wütend die Hände.
    Tigwid rang sich trotz seiner geröteten Wange zu einem Lächeln durch. »Dann benutze ich nächstes Mal auch meine Hände, einverstanden?«

    Er legte die Fingerspitzen auf ihren Rock. Als Apolonia zu einem Tritt ausholte, wich er flink zur Seite aus. Ihr ungeschnürter Stiefel rutschte ihr vom Fuß und machte ein paar elegante Überschläge, ehe er auf dem Boden landete. Tigwid lachte.
    »Weißt du eigentlich, dass du wie ein asthmatisches Rebhuhn klingst?«
    »Soll ich dir vielleicht auch bei deinen Schnürsenkeln helfen?«
    »Wenn ich dich als Fußabtreter benutze, vielleicht!« Apolonia stieg zornig wieder in ihren Stiefel und schlug sich den Mantel vor der Brust zu. »Wir gehen.«
    Als er ihr folgte, fuhr sie herum. » Ich gehe durch die Haustür. Du gehst aus dem Fenster.«
    Ob es nun an Apolonias überschwänglicher Freundlichkeit lag oder seiner unerträglich guten Laune, jedenfalls sah der Junge sie fröhlich an.
    »Ich bin doch ein Dieb. Vielleicht klaue ich dir ein paar Rüschenhauben, wenn du weg bist.«
    »Stimmt. Du gehst zuerst.«
    Als Tigwid auf der Straße aufkam, verschloss Apolonia sorgfältig das Fenster und verließ ihr Zimmer. Im Vorübergehen warf sie einen letzten Blick auf ihren Brief. »Trude … enttäusche mich nicht.«
     
    An diesem Morgen fiel der erste Schnee. Wie Puderzucker rieselte er auf die Stadt herab und innerhalb kurzer Zeit trugen die Hausdächer und Straßenlaternen weiße Hüte. Die Flocken ließen sich auch auf Tigwid und Apolonia nieder, als sie durch die schlummernden Straßen schritten. Hier, in den vornehmen Vierteln, war zu dieser Stunde noch niemand wach. Nur einmal kam ein Dienstmädchen vor die Tür, um drei Pudel spazieren zu führen. Sonst war alles in dämmrige
Stille versunken. Apolonia kam es vor, als befänden sie sich in einer groß gewordenen Zuckerlandschaft: Die mit ockergelbem, lindgrünem und rosafarbenem Stuck verzierten Fassaden sahen aus wie riesiges Marzipankonfekt. Beinahe hatte sie Freude daran, ihre Fußspuren in den Schnee zu setzen, wissend, dass sie die Erste war … aber sie zwang das kindliche Empfinden zurück. Sie musste sich voll und ganz konzentrieren.
    Tigwid, der bis jetzt wortlos neben ihr hergegangen war, musterte sie aus den Augenwinkeln. »Weißt du, ich bin richtig froh, dass du so ein Sauertopf bist.«
    »Was?« Sie erwachte aus ihren Gedanken.
    Tigwid winkte ab. »Nichts. Weißt du, warum ich so glücklich bin, dass du dir die Schuhe nicht binden kannst?«
    »Weil du offenbar über jede beknackte Sache auf dieser Welt glücklich bist.«
    »Nein«, sagte er ernst. »Ehrlich gesagt bin ich nicht oft glücklich. Ich bin bloß froh, dass du dir die Schnürsenkel nicht binden kannst. Die Prophezeiung besagt nämlich, dass das Mädchen, das ich suche, so ein unglaubliches Trampeltier ist wie du.«
    Apolonia hielt inne und schaute zur nächsten Straßenlaterne hoch. Tigwid folgte ihrem Blick. Eine graue Stadttaube war auf der Laterne gelandet und plusterte ihr Gefieder. Mehrere Momente lang schwieg Apolonia, dann flog die Taube davon und verschwand hinter den Dächern. Apolonia setzte sich wieder in Bewegung.
    »Was hast du zu ihr gesagt?«, fragte Tigwid aufgeregt.
    »Wie kommst du darauf, dass ich etwas zu ihr gesagt habe?«
    Er sah sie mit einem schiefen Lächeln an. »Ich habe euch verstanden.«
    Apolonia schnaubte. »Du hast wirklich gar keine Ahnung.
Allein dass du Hunger deinen Klangnamen genannt hast, spricht schon Bände.«
    Tigwid blickte eine Weile in den tanzenden Schnee. In der Ferne rollte eine Kutsche vorbei. »Ist das der Grund, warum du auf Tauben und Kutschenrattern gekommen bist?«
    »Nicht ich, Hunger hat es so verstanden.«
    Tigwid dachte nach. Dann schmunzelte er. »Tigwid … Meine Mutter müsste einen Hang zu exotischen Namen gehabt haben, meinst du nicht?«
    »Weißt du das selbst nicht am besten?« Apolonia sah über die Schulter zurück. Im Schneefall erkannte sie nur undeutlich einen grauen Fleck, der ihnen in stetem Abstand folgte. Sie atmete tief durch.
    »Ich kenne meine Mutter nicht. Ich bin aus dem Waisenhaus.«
    »Aha.« Sie drehte sich wieder nach vorne und rieb sich die kalten Hände. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Ihre Schritte klangen gedämpft. Bald erreichten sie eine Kreuzung. Tigwid bog nach links.
    »Fragen sich deine Erzieher nicht, wo du bist, wenn du in den Nächten so rumstrolchst?«
    »Ich bin vor zwei Jahren abgehauen.«
    Apolonia zog überrascht die

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