Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
schummrigen Tavernen hatte Bassar ganz instinktiv mit der Qualmerei angefangen.
Draußen versank die Stadt in einem flimmernden Schneegestöber. Kirchtürme, Hausdächer, alles war längst weiß; auch das protzige Parlamentsgebäude weiter entfernt, das ihn mit den breiten Marmorsäulen wie ein Maul angrinste, trug bereits einen dicken Schneepelz.
Bassar sah auch sein eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er sah älter aus, als ihm lieb war. Sein Mund war schmaler geworden, die Tränensäcke schwerer, und seine Nase kam ihm knubbeliger vor. Er blies den Rauch gegen das Glas und sein Gesicht verschwand. Schon besser.
Ein zaghaftes Klopfen kam von der Tür. Bassar drehte sich um, die Zigarette im Mundwinkel. »Ja, herein.«
Eine pummelige alte Frau trat ein. Sie hielt das runde Krötengesicht ängstlich gesenkt und blickte Bassar aus großen Augen an. »Herr Inspektor? Cornelius Bassar?«
Er runzelte leicht die Stirn. Es kam nicht oft vor, dass jemand seinen Vornamen nannte. »Ja, der bin ich. Kommen Sie herein. Was gibt es?«
»Mein Name ist Trude Gremchen«, lispelte die Frau. Vorsichtig schloss sie die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. »Man schickt mich wegen …« Sie drehte sich halb um sich
selbst, um in ihre Rocktasche greifen zu können, und zog einen Brief hervor. »Das ist für Sie, Herr Inspektor.«
Bassar kam auf sie zu und nahm den Brief entgegen. »Von wem?«
Die Frau faltete die Hände vor der Brust. »Ich glaube, das darf ich nicht sagen.«
Bassar warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Da der Umschlag weder zugeklebt noch versiegelt war, öffnete er ihn gleich und entnahm ihm ein gefaltetes Papier. Er überflog die Zeilen und erstarrte. Er las den Brief ein zweites Mal.
»Wer hat das geschrieben?«
Die Frau ließ ein unruhiges Quieken vernehmen, dann wuselte sie herum und öffnete die Tür. »Ich weiß nichts von dem Inhalt, Herr Inspektor, aber es ist sehr wichtig, das weiß ich - sehr dringend, gewiss! Wer mich schickt, wird nur wahre Worte sprechen, das versichere ich Ihnen und jedem anderen!«
Bevor Bassar noch etwas erwidern konnte, zog die Frau die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Draußen im Flur hörte er das eilige Klappern ihrer Schritte. Dann verhallte es und verschwamm mit dem gedämpften Lärm der tieferen Stockwerke.
Wieder las Bassar den Brief durch. Ein anonymer Absender … und am Ende ein Satz: Zweifeln Sie nicht an meinem Urteilsvermögen. Mit Hochachtung.
Er faltete das Papier wieder zusammen und trommelte eine Weile mit den Fingern darauf. Was sollte er tun? Die kleine Spiegelgold konnte das doch nicht ernst meinen!
Andererseits … Wenn er nicht jede Möglichkeit nutzte, würde er sich das nie verzeihen. Er konnte es sich nicht leisten, Hinweise unbeachtet zu lassen - nicht in diesem Fall. Nach kurzer Überlegung lief er zu seinem Schreibtisch, griff nach dem Telefon und rief unten in der Zentrale an.
»Sondereinsatz. Ich brauche vierzig Mann. Den ganzen Vormittag. Vielleicht länger.«
»Wer kommt auf so eine Idee? Mal wirklich - wer kommt auf so einen Blödsinn? Das ist doch Irrsinn, eine Taube finden in diesem Schneefall! Ist das vielleicht irgendein riesengroßer Scherz? Nee, nicht mit mir!« Fiz Soligo zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in den Schnee. Das war typisch für den Kommissar. Er hielt, schon seit sie das Polizeipräsidium verlassen hatten, nicht die Klappe. Nur musste Bassar ihm diesmal leider recht geben: Es war Irrsinn.
Er und Soligo und einige weitere Kommissare standen mitten auf dem Apollo-Platz und schauten in den weißen Himmel; an der nächsten Straßenecke parkten mehrere Dutzend Polizeiwagen.
Der Apollo-Platz war im Brief als Treffpunkt genannt worden. Offenbar, dachte Bassar mit einem leisen Schnauben, hatte die kleine Spiegelgold einen exzellenten Sinn für Humor. Sieben Meter hoch stand die Statue ihres göttlichen Namensverwandten vor ihnen und blickte aus steinernen Augen auf sie herab. Der Platz war gesäumt von Nachbildungen griechischer Tempel; an der Südseite stand das Museum für Völkerkunde, an der Nordseite das Museum für antike Kunst und an der Westseite thronte eine Pagode mit vergoldeten Turmspitzen. Nur zum Osten hin öffnete sich der Platz einer breiten Pflasterstraße.
»Ich kann nichts sehen. Nichts! Es gibt Millionen Stadttauben hier, woher sollen wir wissen, welche die richtige ist?«, schnatterte Fiz Soligo und drehte sich um sich selbst. Er besaß so ungefähr alles, was
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