Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
sollten – für die zu den Akten gelegten Fälle, sondern auch die der ungelösten und mittlerweile einfach vergessenen Fälle. Wenn man etwas hier einlagerte, konnte man es genauso gut in ein schwarzes Loch werfen und gute Reise wünschen – das Archiv war die Endstation.
Ein Schild an der Wand neben der Anmeldung wies darauf hin, dass nicht ordnungsgemäß autorisierte Personen keinen Zutritt hatten.
Die Anmeldung hatte Ähnlichkeit mit einer Kinokasse und verfügte auch über einen ähnlich großen Schlitz unter der Scheibe, um Gegenstände und Dokumente auszutauschen. Dahinter saß ein Mann, den man ohne seine Bürokleidung leicht für einen Bergtroll hätte halten können und der unter seinem Baumwollhemd gut versteckt ein Gürtelholster trug. Auf seinem Namensschild stand gut lesbar BRENT.
„Ja?“, fragte er und verschränkte dabei seine Arme vor einem Oberkörper, der im Mittelalter auch gut und gern als Rammbock hätte dienen können.
„Detective Wilder“, stellte ich mich in einem Ton vor, der nur so vor Dienstbeflissenheit und Pflichteifer strotzte. „Ich muss einen Blick in die Beweismittel der Cedar-Hill-Morde werfen.“ Nachdem ich die Fallnummer heruntergerattert hatte, fixierte ich den King Kong hinter der Plastikscheibe mit einem Blick, der in der Kategorie „ungeduldiges Miststück“ alle Preise abgeräumt hätte.
„Ich muss Ihren Ausweis sehen“, polterte er.
Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ein Angestellter im Beweismittellager, der sich an die Vorschriften hielt? Was würde als Nächstes kommen – ein Werwolf, der Vegetarier war?
„Meine Dienstnummer ist …“
„Die Nummer nützt Ihnen gar nichts ohne die Marke, Missy“, erlärte er. Das Missy machte mich unglaublich wütend. Anscheinend wollte King Kong unbedingt, dass ich heute noch mit seinem Schädel Fußball spielte.
„Passen Sie mal auf, Brad, geben Sie mir doch einfach die Kiste, und dann können Sie wieder in aller Ruhe Gewichte stemmen, ihre Gesäßmuskeln trainieren oder das machen, was Typen Ihrer Größe halt so tun, um die Zeit totzuschlagen.“
„Mein Name ist Brent“, sagte er. „Ohne Ausweis keine Kiste.“
„Sie machen Ihrem Berufsstand wirklich alle Ehre“, erwiderte ich zynisch.
„Danke für die Blumen, Miss. Versuchen Sie es ruhig noch mal, wenn Sie sich etwas Charme zugelegt haben.“
King Kong hatte ein unsagbares Glück, dass ich meine sowohl unglaublich schöne als auch unglaublich teure Yves-Saint-Laurent-Bluse trug, andernfalls hätte ich ihn mir schon zur Brust genommen.
Ich gab mich fürs Erste geschlagen und stapfte durch den Flur zurück zum Ausgang. Als ich auf den breiten Stufen vor dem Archiv stand, konnte ich Sunny sehen, wie sie in ihrem Cabrio saß und am Radio herumfingerte. Ich hätte Brent treten, schlagen und sogar anschreien können, was wohl eine therapeutische Wirkung gehabt hätte, aber nicht sonderlich produktiv gewesen wäre. Vielleicht musste ich aber auch einfach nur tief einatmen und mir eine neue Strategie überlegen, statt schon wieder der Raserei der Wölfin nachzugeben. Aber selbst wenn das funktionieren sollte, war die Hoffnung darauf, die Wölfin in mir in den Griff zu bekommen und zukünftig rationaler zu handeln, genauso illusorisch wie die Vorstellung, dass eines Tages eine Bluthexe auf einem fliegenden Besen ein paar Runden über der Stadt drehen würde.
Ich sprang die Stufen hinunter und klopfte ans Autofenster. „Sunny!“
Wie vom Blitz getroffen, schreckte sie auf und blinzelte mich alarmiert an. „Du hast mich zu Tode erschreckt“, sagte sie, während sie das Fenster runterfuhr.
„Ich brauche mal deine Fähigkeiten.“
Sunny starrte mich für eine Sekunde schweigend an und warf mir dann ein relativ vorhersehbares „Wie bitte?“ an den Kopf.
„Du musst irgendeine Art Szene machen, um dieses Monster an der Tür abzulenken, sodass ich mich reinschleichen und die Cedar-Hill-Kiste holen kann.“
„Und warum sagst du ihm nicht einfach, dass er dir die Kiste geben soll?“, fragte Sunny. „Schließlich bist du eine Polizeibeamtin. Er muss dir die Kiste holen, wenn du es verlangst.“
„Darüber wollte ich noch mit dir reden …“, meinte ich und schaute dabei auf die schwarzen Lacklederspitzen meiner Schuhe.
Sunny schloss die Augen. „Oh nein. Nicht schon wieder.“
„Diesmal ist es keine Suspendierung“, sagte ich ruhig. „Roenberg hat mich gefeuert.“
Ich wartete jetzt eigentlich darauf, dass Sunny diesen schrecklich
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