Nocturne City 02 - Blutfehde
tagsüber einen recht mitgenommenen Eindruck. Nicht nur die rissigen Mauern und die abblätternde Farbe fielen mir ins Auge, auch der überall auf dem Gehweg verstreute Müll sorgte für einen verwahrlosten Gesamteindruck.
Nachdem ich an die Eingangstür gepocht hatte, öffnete mir der scheinbar ständig mies gelaunte Henri. Er trug noch immer dasselbe hässliche Netzhemd und dieselbe abgewetzte Jeans wie bei meinem ersten Besuch vor einigen Tagen. „Ich muss mit Victor sprechen“, sagte ich, ohne ihn zu begrüßen. „Es ist dringend.“
Bei meinem Anblick hob Henri eine Augenbraue, trat dann aber kommentarlos zur Seite und zeigte auf die Treppe nach oben. „Seien Sie unser Gast, geliebter Freund und Helfer“, sagte er mit einem Augenzwinkern, aber sein Zynismus vermochte es nicht mal ansatzweise, mich aus der Reserve zu locken.
Auf der Treppe schallte mir aus dem obersten Stockwerk klassische Musik entgegen, die leicht kratzig klang. Als ich die Tür zu Victors Reich öffnete, fand ich das Familienoberhaupt mit geschlossenen Augen in einem Armsessel ruhend vor. Er wirkte gealtert – ausgelaugt von den magischen Kräften, die durch seine Adern strömten.
Kaum hatte ich meinen Fuß in das Zimmer gesetzt, riss er die Augen auf und starrte mich an. „Hat man Ihrer Generation eigentlich nie beigebracht anzuklopfen, bevor man ein Zimmer betritt, Detective?“
„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich kleinlaut, denn jetzt, da er wach war, strömte mit einem Mal wieder eine imposante Willenskraft durch den Körper des kleinen Mannes, die sein Gesicht wie ein Buschfeuer auflodern ließ.
Er seufzte. „Ist schon gut, von Valerie kenne ich es ja auch nicht anders. Bald wird sie wahrscheinlich genau so sein wie Sie. Kann ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten?“
Ich wertete seine Frage als Einladung und setzte mich ihm gegenüber in einen Sessel. „Kaffee bitte, wenn Sie haben.“
Victor griff nach einer altmodischen Klingel, um den Hausangestellten zu rufen, und lehnte sich dann mit gefalteten Händen zurück. „Ich nehme an, dass Sie nicht aus privaten Gründen hier sind.“
„Nein“, antwortete ich. „Ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten, Victor.“
Sein Blick verfinsterte sich. „Sie wissen hoffentlich, dass ich nach den magischen Gesetzen, das Recht habe …“
„… im Gegenzug einen Gefallen von mir zu verlangen“, führte ich seinen Satz zu Ende. „Ja, das weiß ich durchaus. Also sagen Sie mir doch einfach, was Ihnen vorschwebt“, erwiderte ich gereizt. Victor hatte mir gerade wieder einmal klargemacht, warum ich die meisten Hexen nicht ausstehen konnte: Ihr zwanghaftes Interesse an Ausgeglichenheit und dieser alberne Handel mit Gefallen war mir schon immer unheimlich auf die Nerven gegangen.
„Auch wenn ich es könnte, werde ich es de facto nicht tun“, antwortete Victor geduldig. „Sie haben nichts, was mich interessieren würde.“
„Wer nicht will, der hat schon“, sagte ich schnell, um meine Verlegenheit zu überspielen.
„Sie können uns Hexen nicht sonderlich gut leiden, oder?“ Überrascht von seiner Direktheit, schnaubte ich leicht beschämt und fragte ihn meinerseits: „Wie sind Sie darauf gekommen?“
„Es ist recht offensichtlich, aber eigentlich kann man es Ihnen nicht mal verdenken, denn wir Hexen sind ein nicht sonderlich vertrauenswürdiges, überaus egoistisches und obendrein ziemlich verschlossenes Völkchen …“, begann Victor zu erklären. Als Henri, ebenfalls ohne anzuklopfen, ins Zimmer stürmte, hielt er jedoch inne. Der gruselige Concierge trug ein Tablett in der Hand, auf dem zwei dampfende Tassen standen. Victor ließ etwas Zucker in seinen Tee rieseln und schlürfte vom Rand der Tasse. Ich hingegen roch erst unauffällig an meinem Getränk, um sicherzustellen, dass Henri nicht aus Versehen das Kaffeepulver mit dem Rattengift verwechselt hatte. Nach dem ersten Schluck war ich angenehm überrascht, denn der Kaffee schmeckte nicht übel.
„Ich brauche ein paar Informationen, Mr Blackburn, und Sie sind meiner Einschätzung nach die einzige Person, die mir ohne Umschweife die Wahrheit sagen würde.“
„Nun denn, Detective, ich bin ganz Ohr.“
Ich biss mir auf die Lippe, überlegte kurz, wie ich das Thema am besten anpacken sollte, und entschied mich dann für den direkten Weg. „Was ist der Schädel des Mathias?“
Absolut regungslos starrte Victor mich an.
„Victor?“, fragte ich besorgt, der Alte könnte einen Herzinfarkt
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