Nocturne City 02 - Blutfehde
untergegangen, und nach einem Blick auf den Wecker wurde mir klar, dass ich den ganzen Tag durchgeschlafen hatte. Wütend auf mich selbst, krabbelte ich aus der Koje. Ich hatte gerade kostbare Stunden im Bett verschwendet, anstatt nach einem Mittel gegen Dmitris Infektion oder dem Mörder von Vincent Blackburn zu suchen.
Glücklicherweise kämpft man als Werwolf dank der besonderen Heilkräfte unserer Art nicht sonderlich lange mit einem Kater. Schon kurz nachdem ich aus der Dusche gestiegen war und mich angezogen hatte, war ich komplett ausgenüchtert. Nur meine Stimmung ließ nach wie vor zu wünschen übrig, und so streifte ich zur Feier des Tages meine in die Jahre gekommenen Wohlfühl-Boots von Chipewa über. Sie waren das ideale Schuhwerk für das, was ich vorhatte – nämlich ziellos durch die Gegend zu fahren und mich selbst zu bemitleiden.
Erst als ich schon auf halbem Weg nach draußen war, fiel mir das Blinken des Anrufbeantworters auf. Offenbar hatte jemand angerufen, während ich besinnungslos im Bett gelegen hatte. Ich tippte auf Matilda Morgan oder meine Psychiaterin, denn nur wirklich scheußliche Personen hatten die unschöne Angewohnheit, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Davon überzeugt, dass es nach meiner Begegnung mit Joshua kaum noch schlimmer werden könnte, drückte ich kurz entschlossen auf die blinkende Taste, um die Nachricht abzuhören.
„Detective Wilder, hier spricht Melissa Gordon vom Büro des Bezirksstaatsanwalts.“ Sie klang so angewidert, als ob sie eigentlich bei Charles Manson auf den Anrufbeantworter sprechen würde – kein Wunder, schließlich hatte ich ihren ehemaligen Chef getötet. „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie im Fall Arthur Samuelson, auch bekannt als Samuel, als Zeugin geladen sind. Der Mann ist wegen Körperverletzung angeklagt, und die Verhandlung findet am 25. November um zehn Uhr im Nocturne City Superior Court, Saal dreiundvierzig statt.“ Ein lautes Geräusch am Ende der Mitteilung verriet mir, dass sie den Hörer mit einiger Wucht auf die Gabel geknallt haben musste.
Arthur Samuelson … Sein richtiger Name war tatsächlich so dämlich, wie ich angenommen hatte. Samael war der Einzige, der nachweislich mit Vincent in Verbindung gebracht werden konnte und der ihn vielleicht in der Nacht seiner Ermordung gesehen hatte. Da man selbst in einer Stadt wie Nocturne City davon ausgehen konnte, dass ein abgeschmackter Sexclubmitarbeiter nicht über die finanziellen Mittel verfügen würde, um seine Kaution zu stellen, kam mir eine Idee.
Hastig griff ich mir Waffe und Marke und lief zum Fairlane. Am Wagen musste ich kurz innehalten, um den Schaden, den meine Rammbock-Aktion am Lake Basin verursacht hatte, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Scheinwerfer war aus seiner Fassung gerissen und hing lose herunter. Die Chromstoßstange, die ich mir nach meiner Beförderung zum Detective geleistet hatte, war nicht mehr zu reparieren, und die Motorhaube zierte nun ein Kratzer in außergewöhnlich symmetrischer V-Form. So, wie der Fairlane in der Auffahrt stand, hätte ihn wohl nicht einmal der verzweifeltste Autodieb von Nocturne City angerührt. Gottverdammte O’Hallorans, dafür schick ich euch eine saftige Rechnung!, fluchte ich innerlich. Der Wagen sah nicht nur richtig beschissen aus, sondern sprang auch mit einem für meinen Geschmack zu lauten Knurren an. Als dann noch die Schaltung zu haken begann, konnte ich nur hoffen, dass er wenigstens bis zum Bezirksgefängnis Las Rojas durchhalten würde.
Als ich dort endlich ankam, war die normale Besuchszeit schon längst vorbei, aber dank meiner Marke und einem kleinen Lächeln ließ mich der übel gelaunte Wärter doch noch rein. Das Gefängnispersonal rekrutierte sich nicht, wie sonst üblich, aus Angestellten der Strafvollzugsbehörde, sondern aus den Kollegen der Polizeiwache von Las Rojas, die im wöchentlichen Wechsel mal Streifenpolizist, mal Gefängniswärter spielen durften. Ihre miese Laune war also nur allzu verständlich.
Die Haftanstalt lag weit außerhalb des Zentrums in einer verlassenen Gegend mit felsigem Boden und war direkt am Vortiger River in einer ehemaligen Brauerei untergebracht. Eine deutschstämmige Familie namens Vortiger hatte das Gebäude erbaut, nachdem sie im Zuge der Besiedlung des Kontinents nach Westen gezogen war. Sie waren einem gewissen Jeremiah Chopin gefolgt, der am Ende dieser beschwerlichen Reise die Stadt Nocturne gegründet hatte, während sich die
Weitere Kostenlose Bücher