Nocturne City 02 - Blutfehde
beim Besuch Ihres Drecklochs tragen müsste, krieg ich gar nicht über meine Hand.“
Auch wenn ich nach dieser Unterredung das Gefühl hatte, ein zehnstündiges Desinfektionsbad nehmen zu müssen, so hatte mir Samael doch bestätigt, dass Vincent mit seinen schmutzigen Fotos an die falschen Leute geraten war. Dadurch gab es nun wenigstens so etwas Ähnliches wie eine konkrete Spur, die ja in diesem Fall sonst Mangelware zu sein schien. Jetzt brauchte nur noch die Nacht ohne eingetretene Türen und verstümmelte Leichen vorbeigehen, und ich war fast eine rundum glückliche Frau.
Wenn Vincent Blackburn tatsächlich Material besessen hatte«, das für einige Mitglieder der High Society von Nocturne kompromittierend gewesen war, dann hatte er diese Dokumente entweder bei sich getragen oder an einem sicheren Ort in seiner Nähe versteckt.
Seine Klamotten! , schoss es mir durch den Kopf. Hastig schaute ich auf die Uhr. Es war bereits kurz nach sechs. Die Asservatenkammer des Stadtarchivs schloss aber schon um fünf. Wohl oder übel musste ich bis zum nächsten Morgen warten, um Vincents persönliche Sachen untersuchen zu können.
Nachdem durch einige reißerische Presseartikel bekannt geworden war, dass auf Geheiß von Alistair Duncan schwer bewaffnete Totschläger in der Asservatenkammer – und damit im Gerichtsgebäude von Nocturne City – gearbeitet hatten, waren dort jede Menge Köpfe gerollt. Das neue Personal setzte sich aus neunmalklugen Uniabsolventen zusammen, die an ihren pseudooffiziellen Uniformen Schildchen mit besonders ausgefallenen Namen wie CAMMIE und ALISSE trugen.
„Alyse?“, fragte ich unsicher, als eine junge Frau an das kleine Plastikfenster der Anmeldung trat.
„Es wird wie Alice ausgesprochen“, korrigierte sie mich. „Aber keine Sorge, das passiert mir öfter. Wie geht es Ihnen, Ma’am?“
„Danke, gut“, antwortete ich verhalten, denn irgendwie vermittelte mir diese Situation das Gefühl, dass die Stadt ihre Bürger nach der Duncan-Pleite mit einer Extraportion Liebenswürdigkeit bestechen wollte.
„Was können wir für Sie tun, Ma’am?“
„Na ja, wollen Sie mich nicht zuerst mal nach meinem Ausweis fragen?“, sagte ich überrascht, während Alisse mich unentwegt anstrahlte.
„Heute ist Tag der offenen Tür. Da brauchen Sie keinen Ausweis“, antwortete Alisse mit einem Augenzwinkern. „War nur Spaß, Ma’am! Ich müsste natürlich wirklich erst mal einen Blick auf Ihre Marke werfen.“
Einigermaßen verdutzt über so viel Sinn für Humor von einer Stadtangestellten zeigte ich ihr meine Marke und ratterte das Aktenzeichen für den Blackburn-Mord herunter. Daraufhin reichte mir Alisse eine Liste, in der ich die angeforderten Beweismittel quittieren sollte. Dann trottete sie gemächlich zu den endlos langen Metallregalen, in denen die Kisten und Tüten mit den Materialien sämtlicher Fälle lagerten. Im Vergleich zu meinem letzten Besuch – bei dem ich mich widerrechtlich ins Lager hatte hineinschleichen müssen und mit Waffengewalt wieder hinausgejagt worden war – lief die Sache diesmal wie ein Kinderspiel. Es hätte nur noch gefehlt, dass mir Alisse zu den Beweismitteln ein Tässchen Tee und ein Stück Kuchen servierte.
„Finden Sie es nicht auch unheimlich, dass man die Klamotten einer toten Person aufhebt?“, fragte sie und reichte mir eine große braune Tüte mit Vincents persönlichen Dingen. „Ich bin ja der Meinung, dass man das Zeug versteigern sollte.“ Als ich Alisse daraufhin ungläubig anschaute, fügte sie grinsend hinzu: „Ich mache doch nur Spaß, Ma’am!“
„Und ich mache jetzt die Biege“, erwiderte ich und zog mich schnell in Richtung Ausgang zurück. „Mist!“, fluchte ich, als ich auf den Fairlane zulief, denn ich konnte schon von Weitem sehen, dass mein rechtes Vorderrad einen Platten hatte. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, rief ich den Pannendienst, setzte mich auf den Bürgersteig und ging den Inhalt des braunen Beutels durch. Sicherlich hätte ich den Reifen auch selbst wechseln können, aber mit einem dauerbesoffenen Automechaniker als Vater erfüllte es mich hin und wieder mit Genugtuung, einem anderen Menschen bei dieser Arbeit zuzusehen.
Vincents Klamotten machten zwar einen ziemlich teuren Ein druck, hatten aber schon diesen Grauschleier, den schwarze Kleidung nach zu häufigem Waschen annimmt. Außerdem stanken sie so erbärmlich nach Erbrochenem und altem Blut, dass ich froh war, an der frischen Luft zu
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