Nocturne City 02 - Blutfehde
magische Fähigkeiten mit auf den Weg. Man weiß also nie genau, was einen erwartet. Vielleicht bin ich ja noch nicht mal die erste Werwölfin, die über die magischen Fähigkeiten eines Pfads verfügt.“ Bisher hatte ich immer geglaubt, ich wäre eine minderwertige Werwölfin, die als rudellose Insoli über keinerlei magische Kräfte verfügte. Aber je mehr ich über die Sache nachdachte, und je heftiger Sunny den Kopf schüttelte, desto sicherer wurde ich mir jetzt, dass es anders war.
Das merkwürdige Prickeln in meinem Nacken, wenn ich mich in der Nähe von starken magischen Energiequellen befand, ergab auf einmal einen Sinn, und auch meine Abneigung gegenüber Zauberformeln, magischen Kreisen und sonstigen hexentypischen Utensilien ließ sich nun erklären. All das hatte ich bisher immer für den Psychoballast einer verkorksten Kindheit in einer Hexenfamilie gehalten.
„Das könnte durchaus möglich sein“, lenkte Sunny ein, nachdem ich ihr meine Theorie erklärt hatte. „Pfade reagieren äußerst sensibel auf magische Energiequellen.“
„Ich kenne eigentlich niemanden, der sensibler auf magische Energie reagiert als ich.“
„Wenn das wahr ist, dann … wahrscheinlich bist du dann wirklich nicht die Erste. Es gibt Berichte aus der Zeit der Inquisition, nach denen …“
„Sunny!“, unterbrach ich sie. „Wie wär’s mit etwas weniger Geschichte und etwas mehr praktischer Hilfe, damit ich nicht jedes Mal explodiere, wenn ich mit Magie in Berührung komme?“
„Ich helfe dir, so gut es geht“, erwiderte Sunny leise. „Aber ich bin weder Pfad noch Werwölfin, nur eine einfache Casterhexe … Ich weiß praktisch nichts über diese Art von Magie.“
„Trotzdem danke“, sagte ich mit einem Seufzer, während Sunny mit besorgtem Blick die Hände faltete.
„Du kannst immer noch hier schlafen, wenn du magst.“
„Lieber nicht“, erwiderte ich und steckte den Schädel in den Stoffbeutel. „Eigentlich möchte ich einfach nur nach Hause gehen.“ Ich wusste natürlich, dass das eine schlechte Idee war, aber ich hatte es satt, ständig darüber nachdenken zu müssen, was Seamus mir antun könnte – langsam, aber sicher interessierte es mich nicht mehr. Nachdem ich dem Tod so knapp von der Schippe gesprungen war, sehnte ich mich nach meinen eigenen vier Wänden, meinem Bett und etwas Zeit für mich allein.
Als ich an meinem Cottage ankam, wirkte es in der Dunkelheit der Nacht so einsam und verlassen wie immer. Weit und breit war nichts Ungewöhnliches zu sehen – keine Sicherheitsleute der O’Hallorans in Kampfanzügen, keine finsteren Gestalten in den Büschen, keine Stolperdrähte vor dem Eingang.
Ich legte den Schädel auf dem hohen Regal im Eingangsbereich neben einer Unmenge alter Schuhe ab, die ich eigentlich schon seit Langem im Internet hatte versteigern wollen. Dann ging ich hoch in mein Schlafzimmer und kramte die 38er meines Vaters und eine Packung Hohlspitzgeschosse hervor. Trotz meiner relativen Gleichgültigkeit wollte ich gewappnet sein. Nachdem ich die Waffe geladen hatte, legte ich sie auf den Nachttisch und ließ mich aufs Bett fallen. Ich wollte mich eigentlich nur ein paar Minuten lang ausruhen und danach ausgiebig duschen, aber als mich ein paar Stunden später ein rhythmisch piepsender Ton weckte, war draußen bereits die Sonne aufgegangen. Erst nach einigen Augenblicken der Verwirrung erkannte ich, dass nicht mein Wecker, sondern der Computer im Arbeitszimmer für das nervende Geräusch verantwortlich war, das ein gewöhnlicher Mensch auf diese Entfernung nie hätte hören können.
An meinem Rechner sah ich dann, dass eine neue E-Mail im Gleichtakt mit dem Piepston aufblinkte. Absender- und Betreffzeile waren leer. Die Nachricht bestand nur aus einem Satz: „Sehen Sie sich das Video an.“ Mit einer unheilvollen Vorahnung öffnete ich den Anhang der E-Mail. Ich musste einige Sekunden warten, bis das Bild endlich scharf wurde. In dem Video waren drei schwarze Stühle vor einer weißen Wand zu sehen. Auf jedem Stuhl saß eine gefesselte Person mit nach vorn übergebeugtem Oberkörper und einem schwarzen Stoffbeutel über dem Kopf. Es hätte fast wie ein Standbild gewirkt, wenn nicht mit einem Mal einer von O’Hallorans Sicherheitsleuten ins Bild getreten wäre. Grob riss er den Gefangenen nacheinander die Beutel vom Kopf. Obwohl ich bereits geahnt hatte, um wen es sich handeln würde, durchfuhr mich ein gewaltiger Schreck, als ich die Gesichter erkannte. Auf dem ersten
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