Nocturne City 03 - Todeshunger
Jahrhunderts ereilt hatte: der soziale Abstieg.
»Also«, sagte Sunny und tippte mit dem Zeigefinger nachdenklich gegen ihre Schneidezähne. »Alles alte Familien. Alles starke Rudel. Was hat das zu bedeuten?«
Ich hatte keine Antwort, aber tief in meinem Hirn meldete sich die Abteilung für vage Vorahnungen zu Wort und brachte mich aufs Zeitungsarchiv. »Lass uns mal einen Blick in die Tageszeitungen werfen.«
Sie folgte mir ins Archiv, wo wir mit Hilfe eines nicht sonderlich auskunftsfreudigen Bibliothekars die ersten fünf Jahrgänge des Nocturne City Inquirer – der Zeitung, die Jeremiah Chopin nach der Stadtgründung aus der Taufe gehoben hatte – fanden.
Die Ausgaben des ersten Jahres waren mit ihren je nur vier oder fünf Seiten eher dünn und bestanden fast ausschließlich aus Artikeln eines gewissen Emmaline Stout, der in geschwätzigem Stil und grenzwertiger Grammatik die Zeilen füllte. Natürlich fanden sich auch die charakteristischen Fotos: Jeremiah Chopin, der einen Baum für das neue Rathaus fällte, Ingenieur Blacksmith aus Nocturne, der einen Nagel in die letzte Holzschwelle der Eisenbahnstrecke zwischen Nocturne und Seattle einschlug und so weiter und so fort. Sogar das Richtfest der Blackburn-Villa, aus der dreißig Jahre später die Nocturne City University werden sollte, war mit einem Foto dokumentiert.
Im dritten Jahr tauchte in regelmäßigen Abständen eine von einem Geisterbeschwörer namens Mortimer Edgars verfasste Rubrik auf. »Dieser Typ war durch und durch wahnsinnig, so viel steht fest«, brummte Sunny, während wir seine Texte überflogen.
Meist schrieb Edgars über die ihn »begleitenden Geister«, die prophezeit hätten, es werde in spätestens fünfzig Jahren eine Zugverbindung von Nocturne City zum Mars geben. In regelmäßigen Abständen äußerte er sich aber auch zu Hexen, Werwölfen und Dämonen, über die er allerdings fast nur beleidigende Unwahrheiten berichtete, die hitzige Leserbriefe der betroffenen Familien nach sich zogen.
Edgars letzter Artikel hatte den Titel »Von den Fremdstämmigen« und begann:
Nehmt meine Verwendung des Terminus › Fremdstämmige‹ nicht irrtümlich als Bezeichnung für die Kinder der dunklen Ländereien Arabiens auf die von den launenhaften Wellen des Schicksals an unsere Küsten gespült wurden.
»Mir vergeht der Appetit«, bemerkte Sunny. »Heute gälte dieses barocke Gefasel wahrscheinlich als Körperverletzung.«
»Geduld«, antwortete ich und las weiter. Nein, geschätzte Leser, ich spreche von einer weitaus tückischeren Gefahr und beziehe mich auf diejenigen unter uns, die nach außen hin ein freundliches Antlitz zeigen, das ganz dem unseren zu gleichen scheint, unter dieser Hülle aber das heuchlerischste und blasphemischste aller Geheimnisse in ihren Herzen tragen – das Geheimnis, nicht Mensch zu sein!
»Der gibt ja Gas …«, brummelte ich und stürzte mich auf die nächsten Zeilen. Allem Anschein nach verabschiedete sich Edgars mit seinem letzten Artikel nicht nur vom Nocturne City Inquirer, sondern auch von der Welt der Lebenden, denn er wagte es, die mächtigsten Werwolffamilien in Nocturne zu outen.
Wenn ich von den Fremdstämmigen rede, meine ich also die sogenannten Werwölfe, diese blutrünstigen Bestien in Menschengestalt, deren Familien und Rudel weit zahlreicher und verbreiteter sind, als es sich die meisten unter Ihnen jemals vorstellen könnten. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass der Rudel fünf sind, die behaupten, seit jeher an unserer Küste ansässig zu sein, und unsere schöne Stadt als ihr Territorium ansehen: die War Wolves, die Loups, die orientalischen Ookami und die fremdartigen, einsiedlerischen Viskalcis.
»Heilige Scheiße!«, flüsterte ich mehr zu mir selbst als zu Sunny. »Das sind die Rudel der ermordeten Werwölfe!«
»Warte, Luna!«, hielt mich Sunny zurück, als ich die Starttaste am Kopierer drücken wollte, um den Artikel zu vervielfältigen, »lies mal den letzten Abschnitt.«
Aber der stolzeste, prahlerischste und hasserfüllteste dieser Werwolf-Clans, der die unglaubliche Frechheit besitzt, sich als Beschützer dieser stolzen Stadt und seiner Einwohner zu bezeichnen, nennt sich selbst die Serpent Eyes – ein Haufen brutaler, unkultivierter …
Beim Lesen des letzten Satzes war mir, als injiziere mir jemand Eiswasser ins Herz. »Nein«, sagte ich.
Technisch gesehen hatte ich mich entschieden, Insoli zu sein. Joshua, der Werwolf, der mich gebissen hatte, war ein Serpent
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