Nocturne City 03 - Todeshunger
den Finger. Dann drückte ich ein wenig Blut aus der Wunde und ließ es in den ersten der drei Kreise tropfen. Als nichts passierte, beruhigte ich mich wieder.
»Langsam drehe ich anscheinend wirklich durch«, brummte ich. Dass sich irgendjemand bei den Wendigos als Hobby-Magier versuchte und dilettantische Kreise in den Waldboden kratzte, musste noch lange nichts mit den Morden in Nocturne zu tun haben. Obwohl es schlüssig klang, konnte mich mein eigenes Argument nicht überzeugen.
Von jenseits der Bäume drang ein monotones Geräusch an meine Ohren, das sich anhörte, als schlage jemand wieder und wieder auf einen Gegenstand ein. Darunter mischte sich ein kreischendes Geräusch, etwa wie wenn Musik über schlechte Boxen abgespielt wird. Entschlossen griff ich nach meiner Waffe und folgte dem kleinen Weg vor mir, der in die Richtung führte, aus der die Geräusche kamen.
Sowohl die Musik als auch das sich ständig wiederholende dumpfe Schlagen wurden nach und nach lauter. Je weiter ich in den Wald vordrang, desto mehr musste ich an Horrorfilme denken, in denen Wanderer die Überreste junger Polizistinnen in der Häckselmaschine finden.
»Hallo?«, sagte ich erneut, und meine Stimme klang wesentlich weicher, als ich beabsichtigt hatte.
Nachdem ich die letzte Kurve des Pfads mit beschleunigtem Puls und schwitzenden Händen hinter mich gebracht hatte, stand ich plötzlich vor einer Lichtung, auf der ein Mann arbeitete. Glücklicherweise hatte er mir den Rücken zugewandt und war zu sehr damit beschäftigt, Holz zu hacken und dabei in unmenschlicher Lautstärke Golden Earring zu hören, als dass er mich hätte bemerken können. Er trug ein staubiges weißes T-Shirt und abgewetzte Jeans. Sein langes schwarzes Haar wurde von einem ledernden Haarband in Zaum gehalten. Ich war erleichtert, als ich feststellte, dass er auf den ersten Blick einen ziemlich menschlichen Eindruck machte. Der übersteuerte Ghettoblaster stand direkt neben mir. Ich drehte den Lautstärkeregler herunter und sprach den Mann an: »Entschuldigen Sie …«
Er wirbelte herum, riss die Axt hoch und ging in Abwehrposition. Seine Nasenflügel erzitterten, als er mich erblickte.
»Hi«, sagte ich und hob die Hände. »Ich komme in Frieden.«
Er schnaubte nur verächtlich. »Was haben Sie hier zu suchen? Das ist Landfriedensbruch!«, antwortete er, ohne seine Axt herunterzunehmen.
»Das gilt auch für Sie. Dieses Land gehört nämlich der Regierung«, konterte ich, was ihm für einige Augenblicke die Sprache verschlug. Vorsichtshalber behielt ich erst mal die Axt im Auge und versuchte, mich nicht von seinem Gesicht ablenken zu lassen. Das war leichter gesagt, als getan. Mein Gegenüber besaß das kantige Kinn eines Actionhelden, dazu volle Lippen und eine fein geschwungene Nase, die ihm einen etwas entrückten Ausdruckverliehen. Doch seine haselnussbraunen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß mit einem eisigen, berechnenden Ausdruck, den ich nur allzu gut kannte. Oft genug hatten mich die Lumpen und Gauner Nocturnes mit diesem Blick taxiert, um herauszufinden, ob sie mich zu Brei schlagen und entkommen konnten oder sich lieber meinen Anweisungen fügen sollten.
»Sie sind von der Regierung?«, fragte er schließlich.
»Nein«, erwiderte ich vorsichtig. »Aus Nocturne City.«
Sein Kiefer zuckte kurz. Dann drehte er sich um und hackte weiter. »Nun, was treibt Sie her?«
»Eigentlich wollte ich Lucas Kennuka sprechen. Ich habe gehört, er sei der Leiter Ihrer … Ihrer Wohngemeinschaft.« Eine sachlichere Bezeichnung der Wendigo-Siedlung wollte mir nicht einfallen. Angesichts der scharfen Axt war es besser, einen harmlosen statt eines präzisen Ausdrucks zu verwenden.
»Dahaben Sie Glück.« Er warf die Holzscheite auf den riesengroßen Haufen, der den Großteil der Lichtung einnahm, schlug die Axt in den Hackklotz und drehte sich wieder zu mir um. »Ich bin Lucas.«
»Luna Wilder«, sagte ich und reichte ihm die Hand. Als er sie schüttelte, sah ich ihm tief in die Augen und taxierte seinen Griff. Sein Blick wurde etwas lockerer, wich aber dem meinen zu keinem Zeitpunkt aus. Durch die Arbeit mit der Axt waren seine Finger warm und sein Händedruck fest.
»Leider kann ich nicht sagen, dass es schön ist, Sie kennenzulernen, weil ich noch nicht weiß, was Sie wollen, Miss Wilder«, sagte Lucas. Dann hob er ein weinrotes Karohemd auf und zog es über sein T-Shirt, sodass sein sehniger Körper unter dem weiten Flanellstoff verschwand.
»Ist
Weitere Kostenlose Bücher