Noelles Demut
letzten Tagen ihres Lebens dieselben traurigen Augen. Vor vier Jahren ist mein Vater tödlich verunglückt. Mom hat den Verlust nicht verkraftet. All ihre Hoffnungen, die Lebensfreude, der beißende Humor, der sie ausgemacht hatte, all das war aus ihren Augen verschwunden. Augen verlieren den Glanz, wenn man den Mut verliert. Du hattest diese unendlich traurigen Augen, als ich dich sah. Und dann habe ich das Strahlen darin gesehen und dein Lachen gehört. Zeig mir dieses Leuchten in deinen Augen, Noelle. Bitte!“
„Was ist mit deiner Mom passiert?“, flüsterte Noelle.
Simon sah sie an, und Noelle begegnete seinem Blick.
„Sie hat sich das Leben genommen. Innerhalb einer Woche habe ich beide verloren.“
Noelle rückte ein Stück nach hinten und streckte die Arme nach ihm aus.
„Komm zu mir.“
Ihre Stimme klang so dünn, dass es Simon fast Tränen in die Augen trieb. Er legte sich flach auf den Rücken und verschränkte seine Hände vor dem Bauch. Noelle bettet einen Arm auf seine Brust und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter. Sie schwiegen beide.
Simon konnte kaum fassen, was alles auf ihn einströmte. Noch nie hatte er die Nähe und Wärme eines Menschen so überdeutlich gespürt. Noelles Atem wehte über seine Brust. Ihr Haar duftete nach Blumen. Ihr Arm war vom Gewicht her kaum zu spüren, doch als sie begann, mit der Hand seine Brust zu streicheln, hätte er beinahe geschnurrt. Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, wenn man die Eine trifft. Ein glühender Punkt drehte sich in seinem Bauch. Mit jeder Drehung, jeder Minute, die er so dalag, wurde der Punkt größer. In einem Gewirr aus Unsicherheit und Angst schwoll er zu einem Klumpen heißer Emotionen an.
Lydia lief unruhig im Flur auf und ab. Immer wieder legte sie ihr Ohr an die Tür, doch es war nichts zu hören. Seit zwei Stunden war Simon nun schon da drin. Wenn Noelle bis jetzt nicht gesprochen hatte, würde sie es nie tun.
Lydia raufte sich die Haare, stieß unwirsch die Luft aus und fluchte leise.
„Mann, komm da endlich raus und sag mir, was los ist.“
Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Tür einen Spalt. Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch den dünnen Vorhangstoff und erhellten ein unglaubliches Bild. Augenblicklich hatte Lydia ein breites, zufriedenes Grinsen im Gesicht.
Simon lag auf dem Bett, und Noelle kuschelte sich an ihn. Sie hatte einen Arm um ihn geschlungen, und Simon hielt diesen Arm fest. Beide hatten die Augen geschlossen und atmeten tief und gleichmäßig.
Ganz leise schloss Lydia die Tür und presste sich die Hände auf den Mund. Am liebsten hätte sie vor Freude gekreischt und gleichzeitig gelacht. Jetzt würde alles wieder gut werden. Sie rannte ins Wohnzimmer, warf sich aufs Sofa und griff zum Telefonhörer.
„Paul? Es hat geklappt. Simon ist bei ihr. Sie kuscheln.“
„Woher weißt du, dass sie kuscheln?“
„Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Zwei Stunden ist er schon bei ihr, und keiner hat es für nötig befunden, mir zu sagen, was los ist.“
„Und da hast du einfach ins Zimmer geguckt?“
„Hey, das ist immer noch meine Wohnung.“
„Da hast du recht, Süße. Hast du jetzt auch mal wieder Zeit für mich?“
„Wir haben jeden Tag stundenlang telefoniert. Ist das etwa keine Zeit?“, flachste Lydia.
„Ich möchte dich sehen“, sagte Paul und klang dabei sehr ernst.
„Ich kann doch die beiden nicht allein lassen?“
„Wieso denn nicht? Sie sind erwachsen. Was bringt es dir, vor ihrer Tür auf und ab zu gehen? Simon passt mindestens so gut auf sie auf wie du?“
„Das war nicht sehr nett.“
„Du weißt, wie ich das meine. Komm zu mir. Ich will dich!“
Lydia lief es heiß und kalt den Rücken runter. Pauls Stimme klang ganz rau und gepresst.
„Ich bin in einer halben Stunde da“, hauchte sie in den Hörer.
Im Bruchteil einer Sekunde war Simon hellwach und riss die Augen auf. Unfähig, sich zu bewegen, starrte er an die Zimmerdecke. Ein undefinierbares Gewicht drückte auf seine Brust. Leiser Atem wehte durch den Raum. Als ihm bewusst wurde, dass Noelle in seinen Armen lag, presste er sie fest an sich.
Sie wurde unruhig, stöhnte leise, und ihr Atem beschleunigte sich. Dann begann ihr Arm auf seiner Brust zu zucken. Simon verringerte den Druck seiner Umarmung, streichelte ihr übers Haar und flüsterte: „Schhht! Ich bin es nur, Simon. Schlaf weiter.“
Noelle holte tief Luft und stieß sie seufzend wieder aus. „Hmmm!“, machte sie. Ihre kleine
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