Nördlich des Weltuntergangs
Gästen wurde abgeraten, das Wasser aus der Leitung zu trinken, und so löschte Eemeli seinen Durst mit dem heimischen Bier aus Ukonjärvi.
Das Telefonbuch stammte aus der Zeit vor dem Krieg, und bei der Auskunft meldete sich niemand. So machte Taina sich in die Stadt auf, um zu erkunden, wo Bypassoperationen durchgeführt wurden. Sie kehrte enttäuscht zurück. Die Universitätsklinik war geschlossen. Das Krankenhaus von Jorvi arbeitete zwar, war aber nur mehr eine reine Entbindungsklinik. Die einzige Einrichtung, die halbwegs funktionierte und noch erwachsene Patienten aufnahm, war die uralte Chirurgische Klinik von Eira. Taina geleitete Eemeli dorthin.
Auch dieses Gebäude wirkte äußerst schäbig. Eemeli musste ganze zwei Stunden warten, bis er an die Reihe kam. Kranke Menschen in abgetragener Kleidung füllten die Gänge. Die früher so weißen Kittel der Ärzte schrien danach, gewaschen zu werden. Als Eemeli ins Sprechzimmer gerufen wurde, registrierte er, dass der Arzt eine Schnapsfahne hatte.
Die Untersuchung musste im Voraus bezahlt werden. Hundert Euro, was in Naturalien zehn Kilo besten Rindfleisches bedeutete. Feilschen war sinnlos, es warteten genug andere Patienten.
Die Untersuchung war oberflächlich, und der Arzt kam zu dem Schluss, dass Eemeli herzkrank sei. Er holte ein kleines Röhrchen mit gelben Tabletten aus der Tasche. Die sollte Eemeli jedes Mal schlucken, wenn er Herzbeschwerden hatte.
Taina erklärte, dass die Tabletten Eemeli nicht halfen. Er brauche eine Bypassoperation, diese Diagnose hatte der Doktor zu Hause gestellt.
Der Arzt verweigerte jedoch die nötige Operation. Er sagte, er sei Trinker und könne daher für nichts garantieren, wenn er zum Messer griff. Außerdem sei der Patient bereits in einem Alter, dass er durchaus Jüngeren Platz machen könne.
»Der Mensch lebt nicht ewig. Vita brevis, mediana longa«, sagte er.
Taina gab sich damit nicht zufrieden. Sie verlangte Maßnahmen. Ihr Mann würde sterben, wenn man ihn nicht operierte.
Widerwillig erkundigte sich der Arzt nach den Möglichkeiten für eine Operation im Haus. Wie sich zeigte, war die Warteschlange so lang, dass Eemeli erst neunundzwanzig Jahre später mit seiner Bypassoperation würde rechnen können.
Eemeli überschlug, dass er dann hundertvier Jahre alt wäre. Es schien ihm sinnlos, sich in eine Schlange einzureihen, die erst hinter der Tür des Totenreiches endete.
»Ein Privatpatient kommt natürlich schneller dran, vorausgesetzt, er verfügt über die nötigen finanziellen Mittel«, verriet der Arzt. Er holte einen kleinen Zettel hervor, auf dem die Preise für die einzelnen Operationen in Euro aufgelistet waren. Er erklärte, dass die Summen ohne weiteres in Lebensmittel umgerechnet werden konnten. Der Kurs sei günstig, wie er betonte.
Taina informierte sich, welchen Preis das Leben ihres Mannes hatte. Für eine Bypassoperation wurden 6000 Kilo gesalzener kleiner Maränen verlangt. Im Vergleich dazu kostete eine Blinddarmoperation 1500 und Hämorrhoiden 500 Kilo. Billiger waren Probleme mit der Prostata, eine solche Operation kostete nur 100 Kilo. Weitaus teurer hingegen würde das Einsetzen eines künstlichen Gelenkes, dafür waren 100 Fässer Salzfisch zu berappen.
Eemeli und Taina liefen deprimiert kreuz und quer durch Helsinki. Das Reichstagsgebäude war jetzt Sitz des Stabes der Europäischen Union. Das finnische Parlament war in die Räume der ehemaligen Nationalen Aktienbank, in alten Zeiten unter dem Namen Kamp bekannt, umgezogen. Die Anzahl der Abgeordneten war auf die Hälfte geschrumpft und betrug nur mehr einhundert. Das lokale Parlament tagte einmal im Jahr, und auch dann nur für zwei Wochen. Welchen Sinn hätte es gehabt, zu debattieren und Gesetze zu erlassen, die man nicht durchsetzen konnte. Finnland beschließt, Europa erlässt.
Das im vergangenen Jahrtausend an der Bucht von Töölö gebaute prachtvolle Opernhaus war jetzt ein internationales Heim für Kriegsinvaliden. Auf dem Hof hinkten Italiener und Franzosen an Krücken herum. Die in den Gefechten des Atomkrieges geschundenen Kämpfer halfen sich gegenseitig, Personal war anscheinend für Versehrte nicht vorgesehen. Der Hauptsaal der Oper war offensichtlich der Speisesaal, denn auf der Bühne stand eine Gulaschkanone. Die gute alte Finlandiahalle am anderen Ende der Bucht sah sehr deprimierend aus, sie war mit teergetränkten Schindeln abgedeckt worden. Das düstere Gebäude spiegelte sich im schwarzen Wasser, ein
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