Nördlich des Weltuntergangs
Ohr.
Die Anführerin war eine etwa sechzigjährige, große Frau mit einer Adlernase. Ihrer dunklen Hautfarbe nach mochte sie eine Inderin sein. Sie hatte eine königliche Haltung und war auch sonst eine eindrucksvolle Er scheinung. Im Übrigen sprach sie ausgezeichnet Eng lisch.
Sie empfing Eemeli unter freiem Himmel am Ufer des Sees. Als Erstes fragte sie, welche Bedeutung der Name des Sees habe. Als sie hörte, dass dieser auf die Kastra tion männlicher Tiere hinwies, huschte über ihr Gesicht ein schönes, wissendes und sehr weibliches Lächeln.
Die Königin der wandernden Frauen hielt zunächst eine kurze, aber kernige friedenspolitische Ansprache, in der sie das männliche Geschlecht wegen seines Hangs zu Kriegen und anderen Gräueltaten geißelte. Dann fragte sie, ob es in dieser Gegend in jüngster Zeit Kriegshandlungen gegeben habe. Sie wolle ihr Volk wegführen von allen Kriegen, und daher wünsche sie Informationen über die Situation in Finnland.
Eemeli Toropainen konnte vermelden, dass in der Ge gend nicht unmittelbar gekämpft worden sei, allerdings habe man Bomber und vor allem Raketen am Himmel gesehen. Und natürlich habe sich die »Junifinsternis« auch hier ausgewirkt.
Nun teilte die Frau mit, dass sie und ihre Schicksals gefährtinnen überlegten, ob sie sich in Ukonjärvi nieder lassen sollten. Die Kosakenpatrouille habe viel verspre chende Informationen von dort mitgebracht.
Für einen kurzen Augenblick spielte Eemeli mit dem Gedanken, die vierzigtausend Frauen bei sich aufzu nehmen. Im ersten Moment schien es ihm keine so üble Idee zu sein, mit den exotischen Gästen zu leben. Scha de nur, dass er nicht mehr der Jüngste war. Er betrach tete das lebhafte Gewimmel im Lager und die nackten, dunkelhäutigen Gestalten, die im See schwammen. Wenn sein Herz nur nicht so schwach wäre…
Eemeli Toropainen erklärte in offiziellem Ton, dass er keine so große Zahl von Frauen aufnehmen könne. Im Prinzip reize ihn zwar das Angebot, doch die Ressourcen von Ukonjärvi reichten bei weitem nicht aus, um so viele Mäuler zu stopfen. Außerdem sei seine Partisanenkom panie verpflichtet worden, alle ausländischen Eindring linge fern zu halten, ob es nun feindliche Soldaten oder beispielsweise Frauen seien. Ukonjärvi gehöre immerhin zu Europa, und insofern galten auch für ihn die europä ischen Gesetze.
Er verriet auch, dass sich auf seinem Gebiet eine Kernwaffe befand, was ein gewisses militärisches Risiko darstelle. Sollte sich die Waffe von selbst zünden, wäre die ganze Gegend zerstört. Er wollte nicht den Tod von vierzigtausend Frauen riskieren.
Eemeli breitete die finnische Landkarte auf dem Ra-sen aus. Die kleine Gesellschaft kniete nieder, um sie zu studieren. »Ich empfehle Ihnen, Ihr Volk nach Ostbott nien zu führen. Dort gibt es riesige Feldflächen und Unmengen geräumiger Häuser mit bis zu zehn Zimmern, in denen aber nur zwei, drei Menschen leben. Die dorti gen Männer wissen Frauen besonders zu schätzen«, rühmte Eemeli die Gegend.
»Ist der Stamm nicht sehr kriegerisch?«, fragte die Kö nigin zweifelnd. Sie sagte, sie habe auf ihrer langen Wanderung so etwas läuten gehört. Im fernen Nowgorod hatten die Leute Andeutungen über einen Winterkrieg oder ein ähnliches Scharmützel gemacht, das einst geführt worden war und in dem auf der einen Seite gerade die Leute aus Ostbottnien gekämpft hatten.
Eemeli wies die Gerüchte über die kriegerische Veran lagung der Ostbottnier zurück. Er versicherte, dass sie ein friedliebendes Volk seien, die Männer am liebsten zu Hause die Felder bestellten und sich davor hüteten, an militärischen oder politischen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Sie saßen am Feierabend daheim vor der Haustür und sangen Volkslieder.
Eemeli riet der Anführerin, sich mit ihren Frauen vom jetzigen Standort aus in westliche Richtung zu wenden, sie sollten nördlich an Nurmes vorbeiziehen, und zwar über Rautavaara nach Iisalmi und dann nach Pihtipu das, von dort könnten sie sich auf Ostbottnien verteilen. Eemeli empfahl ihnen, sich in Alajärvi, Lapua, Kauhava, Ilmajoki, Kurikka und anderen Orten niederzulassen. Aus dieser Gegend seien im vergangenen Jahrhundert viele Leute abgewandert, sodass dort ohne weiteres vierzigtausend neue Kriegsflüchtlinge unterkommen konnten, zumal es sich um Frauen und Kinder handel-te.
Eemeli pries noch die Alltagsgerichte der Ostbottnier als besonders nahrhaft und köstlich. Speziell
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