Nördlich des Weltuntergangs
Mauersteine nach Tihvin geschafft und für den Bau von Hafenkais verwendet worden. Fast alle Newa-Brücken waren einge stürzt, weil ihre Steinkästen vom Ufer abtransportiert worden waren. Die Newa war verstopft wie die ganze Stadt, und so hatte sich der Strom ein neues Bett über Peterhof in den Finnischen Meerbusen gebahnt. Die neue Newa hatte viele alte Palastviertel mit sich geris sen, der größte Teil des ehemaligen prachtvollen Zent rums war jedoch noch vorhanden.
Durch die Straßen der Stadt strichen Füchse und Marderhunde, und nachts war manchmal das Heulen von Wölfen zu hören. Severi sicherte sich seinen Le bensunterhalt, indem er mit den Füchsen um die Wette Jagd auf die Hasen machte, die die Gegend um den Finnischen Bahnhof bevölkerten und sich in den verwil derten Parks der Großstadt anscheinend wohl fühlten.
Die Straßen und Kanäle waren bis zu einem Meter hoch mit Schlamm bedeckt, den die Newa mitgebracht hatte und der jetzt gefroren war. Severi schlitterte durch die vereisten Straßen und betrachtete traurig die verfal lenen Paläste. Er hatte im vergangenen Jahrhundert mehrmals das damalige Leningrad besucht und dachte wehmütig an die hellen Nächte in der großen Stadt, als die Taxis herumgeflitzt waren, der Wodka in Strömen geflossen war und die unbekümmerten Russen ihre ausufernde Gastfreundschaft gezeigt hatten.
Severi entdeckte viele bekannte Orte, leer stehende Restaurants und verwaiste Museen, deren Sammlungen verschwunden oder fortgebracht worden waren. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Türen aus den Angeln gefallen. Vom ehemaligen Museum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution war nicht mehr viel übrig: Im Hauptsaal war die Decke einge stürzt, im Schlamm schwamm ein einsamer Bus, in dem noch das russischsprachige Hinweisschild zu erkennen war, das Rauchen und Wodkatrinken verbot. Die Samm lungen der Eremitage waren zum Glück ausgelagert worden, denn auch dieser große Komplex steckte im vereisten Schlamm.
Severi rutschte über den alten Newski Prospekt, vom Museum für Bildhauerkunst bis hin zur ehemals so prachtvollen Isaak-Kathedrale. Die Kirche stand fest auf ihrem Platz, Krieg und Schlamm hatten ihr kaum etwas anhaben können. Die goldenen Kuppeln waren freilich grau geworden, und drinnen fehlten die Kunstschätze, auch das Pendel, das von der Kuppel herabgehangen und die Bewegung der Erdkugel angezeigt hatte, war nicht mehr da. Wo mag es jetzt wohl schwingen?, fragte sich Severi und entzündete auf dem Platz vor der Ka thedrale ein Lagerfeuer auf einem leeren Denkmalsockel. Vielleicht hatte dort früher eine Leninbüste gestanden; wie auch immer, nun war jedenfalls keine mehr da, und der Sockel eignete sich gut als Feuerstelle. Die Steine waren aus Marmor, und Stufen aus rotem Granit führ ten zu ihnen hinauf.
Severi machte sich Hasenbraten, als drei verfrorene Soldaten auftauchten. Severi gab ihnen ein paar Bissen ab und fragte, woher sie stammten. Zwei von ihnen kamen aus Astrachan, der dritte aus Sibirien. Zurzeit bestand ihre Aufgabe darin, den letzten Wärtern der Stadt Gemüse zu bringen. Mit Eselskarren transportier ten sie den Kohl von St. Petersburg nach Schlüsselburg. Severi tauschte zwei Hasenfelle gegen eine aufgerollte Leinwand von den Soldaten ein. Es war das Gemälde Unerwartet von Ilja Repin, das die Burschen im Herbst in der Nähe der Eremitage auf der Straße gefunden hatten, wohin es vom Wind geweht worden war.
Severi besuchte auch die Peter-und-Paul-Festung auf der Newa-Insel. Zu seinem Erstaunen sah er, dass dort Leben und gemächliches Treiben herrschte: In der Fes-tung existierte immer noch ein Gefängnis, so wie bereits viele Jahrhunderte lang. Darin hatten seinerzeit De kabristen, die verschiedensten Revolutionäre, sogar finnische Häftlinge geschmachtet, später weiße Generäle und Aristokraten aus dem alten St. Petersburg. Neugie rig erkundigte sich Severi im Büro des Kommandanten, welche Häftlinge derzeit in den Zellen schmorten. Man reagierte misstrauisch und fragte nach seinem Passier schein, dem Propusk. Severi erklärte, dass er ein harm-loser finnischer Tourist sei, und wollte rasch den Rück zug antreten, was jedoch nicht mehr möglich war. Die Angelegenheit verlangte nach einer Klärung, und so lange wurde Severi in eine Zelle gesperrt.
Es zeigte sich, dass dort viele Menschen einsaßen, die über ihr Schicksal im Ungewissen gelassen wurden. Die meisten waren nicht einmal
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