Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
keine Lust mehr hat. Kaum jemand beginnt unmotiviert auf einer neuen Stelle.« Erst, wenn man seinen Chef näher kennengelernt hat, fällt die Motivation ab. »Drei Viertel der Kündigungsgründe beziehen sich auf den direkten Vorgesetzten«, sagte Nink. »Schlechte Führung ist ein Kostenfaktor.«
Mit anderen Worten: Wenn in einer Firma eine handfeste, stabile und nachhaltige Krittelkultur floriert, hat der Chef saubere Arbeit geleistet. Nink verriet mir ein offenes Geheimnis:
»Führungsaufgaben bekommt ein frischgebackener Chef in Deutschland nicht beigebracht. Man wird ins kalte Wasser geworfen. Hierzulande funktioniert das in der Regel so: Man wird befördert, weil man lange im Unternehmen dabei war oder aufgrund von fachlichem Wissen, aber nicht, weil man etwas von Personalführung versteht. Es passiert immer wieder, dass man den besten Verkäufer zum Verkaufsleiter befördert. Da hat man mit einem Schlag den besten Verkäufer verloren und die schlechteste Führungskraft gewonnen.«
Auch die Innovationskultur einer Firma wird vom Chef bestimmt.
»Die Stimmung im Betrieb ist extrem abhängig von den Führungskräften«, bestätigte Petra Schubert. »Wenn die Leute im Management positiv eingestellt sind, dann sehen auch die Mitarbeiter die Möglichkeiten. Gerade bei Führungspersonen ist negatives Verhalten oft einfach eine schlechte Gewohnheit.« Schubert schlägt den Chefs ein therapieähnliches Training vor. »Der Chef soll sich fragen: ›Warum habe ich diesen Blick drauf? Warum will ich Ideen von anderen schlechtmachen? Fühle ich mich dann stärker?‹ Dann muss man ihn darauf trainieren, erstmal ›Halt‹ zu sagen, wenn er eine neue Idee vorgetragen bekommt und merkt: ›Ich bin wieder am Meckern.‹ Dann soll er einen Schritt zurücktreten und sich fragen: ›Was ist gut an der Idee? Könnte es vielleicht tatsächlich gelingen?‹«
»Und das hilft? Man kann Krittelei wegtherapieren?« Ich war skeptisch.
»Es dauert ein halbes Jahr«, gab sie zu, »aber es ist trainierbar.«
Wer nicht das Geld oder den Mut hat, den eigenen Chef in Therapie zu schicken, muss die Sache selbst in die Hand nehmen. In der Medien- und Werbebranche, wo Ideenphobie und Kreativitätsallergie für Chefs und Kunden zum Alltag gehören, ist das inzwischen gang und gäbe.
»Wenn man dem Kunden oder Chef neue Werbeentwürfe, Designs oder sonstige Ideen vorstellt, darf man den Topentwurf bloß nicht als Erstes präsentieren«, empfahl Werbefachmann Sascha Alter. »Einem Kunden zeigt man am besten als Erstes einen Entwurf, bei dem er ein Haar in der Suppe finden kann. Dann hat er sein Pulver ein bisschen verschossen, und man kann den Topentwurf rausholen. Immer das Gemecker abwarten. Nur nicht ungeduldig werden und dem Prozess vorgreifen. Wenn einer meckert, müssen die anderen mitmeckern, sonst verlieren sie ihr Gesicht. Das ist ein natürlicher gruppendynamischer Prozess.«
Das Konzept, anfangs den Haien einen Köder zuzuwerfen, damit sie satt sind, gilt auch in anderen Bereichen.
»Lass sie ruhig dein Baby zerrupfen«, meinte Sebastian S., »dann sagst du, ›ist gut, ich ändere das‹, und dann schneidest du irgendwas an dem Film um. Völlig egal, was. Beim nächsten Termin präsentierst du ihnen dann den irgendwie veränderten Film, und da sie gar nicht mehr wissen, worüber sie beim letzten Mal genörgelt haben, jetzt aber sehen, dass du anscheinend irgendwas gemacht hast, sind sie zufrieden. Einmal habe ich einen Film sogar völlig unverändert nochmal präsentiert, weil ich so sauer war, wie grundlos der zerrupft wurde – und beim zweiten Mal kam er anstandslos durch, obwohl ich nichts daran geändert hatte! ›Viel besser jetzt‹, sagten sie, und auch noch mit diesem Unterton: ›War das denn jetzt so schwer?‹«
Wenn schon die Nörgelei für die Wirtschaft nicht unwichtig ist – welche historische Rolle spielte sie dann erst in den tausenden von Jahren voller Konflikte, Umwälzungen, Siegen und Niederlagen?
Ich freue mich, dass Sie das gefragt haben.
9 . Lästern wie Luther
Wie Zetern den Lauf der Welt veränderte
Es gibt zwei gängige Theorien der Geschichtsschreibung. Die eine besagt, Geschichte werde von »großen Männern« gemacht. Könige und Feldherren, Dichter und Erfinder, Prediger und Rebellen waren es, die die Welt mit ihren Taten, Ideen und Plänen geformt haben. Die andere sagt, dass Geschichte von gesellschaftlichen Umstürzen bestimmt wird, von großen, erdbebenartigen Bewegungen, die von
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