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Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Titel: Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric T. Hansen
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konnten. Es war Lenin, der 30 Jahre später dem Marxismus zum Erfolg verhalf. Das war ein Quengelmeister! Und er hatte ein dankbares Publikum – das vom Zaren gebeutelte Volk. Ehrlich gesagt hätte Lenin auch ohne den Marxismus in Russland eine Revolution entfachen können. Er hätte versprechen können, eine neue Gesellschaft nach den Anweisungen aus Dale Carnegies Buch Sorge dich nicht, lebe ! aufbauen zu wollen – das Volk wäre ihm auch dann gefolgt. Er beherrschte einfach die Sprache des Nörgelns.
    Marx dagegen nicht. Zu Lebzeiten hatte er so gut wie gar keinen Einfluss auf die Missstände, über die er so abstrus murrte. Es scheint, es wäre ihm auch nicht genug gewesen, in London ein paar popelige Missstände auszubessern. Er wollte ja nichts weniger als das ganze System neu entwerfen, darunter ging es nicht. Hätte er mal das Anprangerer-Handwerk richtig gelernt, wäre vielleicht was aus ihm geworden.
    Dickens, der zur gleichen Zeit in London lebte, war ebenfalls ein Lästerer vor dem Herrn. In seinen hyper-populären, in Zeitungen veröffentlichten Romanen wie Oliver Twist , Eine Weihnachtsgeschichte und Harte Zeiten prangerte er die soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Armen und die Gier an. Sein Herz für die Unterdrückten ging so weit, dass er in seinen Werken Prostituierte in Schutz nahm – im Viktorianischen Zeitalter etwas Unerhörtes. Sein allererster Roman Die Pickwickier spielte eine maßgebliche Rolle bei der Schließung eines besonders berüchtigten Gefängnisses. Damit inspirierte er auch andere zeitgenössische und nachfolgende Journalisten und Romanautoren, gegen Missstände anzuschreiben.
    Es war Dickens mit seinem Populismus und seinen gar nicht revolutionären christlichen Werten, der in England etwas bewirkte. Noch zu seinen Lebzeiten wuchs eine Generation heran, die die unmenschlichen Zustände in der Industrie nicht mehr dulden wollte. Bevor sich in England die Gewerkschaften und die oppositionellen Politiker mit genug Rückendeckung aus dem Volk gegen die unkontrollierten Industriebosse wenden konnten, musste ein mutiger Nörgler die Machenschaften der Kapitalisten erstmal anprangern. Das war Dickens. Kann es sein, dass Marx deshalb ein bisschen eifersüchtig war? Über Dickens schrieb er nämlich, er habe »der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten gegeben als alle professionellen Politiker, Publizisten und Moralisten zusammen.«
    Was lernen wir daraus?
    Jeder erfolgreiche Umsturz begann mit volksnaher Nörgelei, ob in Frankreich 1789, Russland 1917 oder Iran 1979. Und das Wichtigste daran war immer, dass sie auf ein handfestes Feindbild zielte – ob Papst, König oder Schah. Der Hass des Volkes auf diese Feindbilder war so groß, dass die politische Ideologie dahinter im Grunde egal war. Hauptsache, sie artikulierte ordentlich Unmut. Seien wir doch ehrlich: Das iranische Volk war 1979 so wütend auf den Schah, dass der Ajatollah Chomeini auch Erfolg gehabt hätte, wenn er die Lehren der Scientology gepredigt hätte. Auch Hitler verdankt seinen Erfolg der Feindbild-Zeterei, und die RAF fand nur keinen rechten Zuspruch, weil ihre Feindbilder – Kapitalismus, soziale Ungerechtigkeit oder gar »die Bullen« – viel zu abstrakt, um nicht zu sagen lasch waren.
    Doch eine Ausnahme gibt es: Leipzig 1989.
    Es war eine seltsame Revolution. In den Leipziger Montagsdemos kämpften die Montagsnörgler mit sich selbst, friedlich zu bleiben, um der Volkspolizei keinen Grund zum Eingreifen zu geben. Ihre Waffe war das Mosern, nicht mehr von einem einzigen Obernörgler wie zu Zeiten Luthers oder Lenins, sondern von allen und jedem. Gruppen wie das Neue Forum und große Namen wie Kurt Masur, Kapellmeister des Gewandhausorchesters, sowie jede Menge Künstler, Literaten und Promis traten auf und nölten endlich ungehemmt: »Reisefreiheit für alle«, »Meinungsfreiheit«, »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und am gewagtesten: »Deutschland einig Vaterland« sowie etwas spezieller, »Schnitzler, entschuldige Dich!« oder »Gorbi, Gorbi, Gorbi!«
    Es wurde gegen Honecker gemurrt, auch gegen das System, aber es gab weder einen rechten Anführer noch ein echtes Feindbild. Vermutlich hätte dieser oder jener, der keine halben Sachen machte, Honecker gern aufgeknüpft, dennoch wurde es nicht vorgeschlagen. Stattdessen wurde – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – positiv gemeckert.
    Unter den vielen Montagssprüchen bildete sich ein Hauptspruch heraus, aber kein

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