Noir
so schwer, als lägen Steine auf seiner Brust. «Ich werde aber nicht mehr lange da sein.»
Noir tastete nach seiner Hand. In der Dunkelheit waren ihre Augen vollkommen offen, nahmen ihn auf in ihr Weltall. «Wenn du stirbst, hoffe ich, dass du mich mitnehmen kannst.»
Auf den zurückgeschobenen Sitzen hätten sie bequem schlafen können, doch Noir wollte nicht auf ihrem Sitz bleiben. Sie kletterte zu ihm und umschmiegte ihn umständlich, wobei sie gegen die Handbremse trat und den Wagen ein paar Meter in die Büsche rollen ließ. Schließlich hatten sie sich arrangiert.
«Hilfst du mir, einzuschlafen?», flüsterte sie.
«Das fragst du noch …»
Er blieb wie schon am Mittag wach, nachdem sie eingenickt war. Die Geräusche draußen und das STYX hielten seine Gedanken auf Trab. Wie abgeschnittene Fäden, wie fortflatternde Stofffahnen, so unbefestigt rauschten sie ihm durch den Kopf.
Allmählich drängten sich ihm Bilder auf. Er sah Noir, die in einem altmodisch möblierten Zimmer saß und das Bilderbuch über die Kätzchen las. Sie selbst war fünf oder sechs Jahre alt und hatte eine Topffrisur, ihrem jetzigen Haarschnitt nicht unähnlich. Sie sah sich die Bilder sehr aufmerksam an, und auch Nino sah die feinen Buntstiftzeichnungen. Er fühlte das dicke, etwas raue Papier zwischen ihren Fingern und roch die Druckerschwärze der Schrift. Als Noir das Buch zu Ende geblättert hatte, stand sie auf und ging zwei Treppen hinab in die Küche des großen Hauses, kletterte auf den Esstisch, holte eine hellblaue Schüssel aus dem Schrank, füllte sie mit einem Becher Sahne aus dem schwer zu öffnenden Kühlschrank und trank nur mit der Zunge, bis sich ihr Kiefer verkrampfte. Jetzt trank sie kleine Schlückchen, die sie über den Rand der schräg gehaltenen Schale schwappen ließ.
Sie war eine Katze.
Sie war ein einsames Kind.
Manchmal, wenn sie sich selbst vergaß, konnte sie fühlen, was in anderen Menschen vorging. Als würden sich Schleusen öffnen, sodass ins Wasser ihres Bewusstseins fremde Ströme flossen. Sie hatte die Gabe.
Sie konnte lieben.
Nino fuhr aus dem Schlaf hoch, als ein Tannenzapfen auf die Heckscheibe fiel. Draußen dämmerte es, und noch immer knisterte ein feiner Regen.
Noir schlief. So steif und kalt, wie sie auf ihm lag, hätte sie auch tot sein können. Er legte die Wange nah an ihre Nasenspitze und konzentrierte sich auf den Hauch Wärme, den ihr Atem erzeugte.
Ohne Zusammenhang kehrten die Bilder des Geträumten zurück. Er zweifelte nicht daran, dass es eigentlich Noirs Träume waren, die er auf irgendeine Weise im Schlaf verfolgen konnte. Und was sie träumte, war keine Verarbeitung ihrer jetzigen Erlebnisse. Es waren Schnipsel von Erinnerungen, die allmählich unter dem Frost der letzten zwanzig Jahre auftauten.
Als sie zu sich kam, merkte Nino es nicht gleich, denn sie bewegte sich kaum. Lediglich ihre Augen gingen auf. Er spürte das Blinzeln ihrer Wimpern am Ohr und erschrak.
«Du bist ja wach! Wieso sagst du nichts?» Er sah sie an. «Alles in Ordnung? Noir!»
«… kalt.»
Er begann ihren Rücken und ihre Arme zu rubbeln. «Ja, es ist kalt. Warte, ich mach die Heizung an.» Er streckte sich nach dem Schlüssel aus und schaltete den Motor ein, obwohl diese Art von Wärme wahrscheinlich nichts gegen Noirs Frieren ausrichten konnte.
«Schwer», sagte Noir tonlos. Tatsächlich wog sie erheblich mehr als früher, fast so viel wie eine Frau aus Fleisch und Blut. Er sagte ihr das, um sie aufzumuntern, aber sie gab wieder nur ein Stöhnen von sich. «Jean …»
«Was? Tut er dir das an? Hast du Schmerzen? Noir, wo tut es weh?»
«Brauche ihn.»
Nino hatte alles erwartet, nur das nicht. Er presste die Augen zu. Er wollte, er
konnte
sich nicht vorstellen, wie Noir ihr Bedürfnis nach Liebe an ihm gestillt hatte.
Er streichelte ihren Körper und öffnete ihre Hose. Als er in sie eindrang, spürte er mehr denn je, dass er etwas an sie aufgab.
Noir erwärmte sich. Ihre Bewegungen wurden fließender, wurden flüssig. Als sie genug hatte, benetzte sie sein Gesicht mit spinnenfeinen Küssen. Er sank in Schlaf.
Noir brach durch Erinnerungen wie durch Seidenpapier. Bilder, zu durchsichtig, zu dicht übereinandergelegt, um erkennbar zu bleiben. Städte, Wohnungen, rote Erde, ein Dschungel. Schnee, Wälder, Gebirge. Slums. Industriegebiete, Kellerpartys, Hotels. So viele Hotels. Ein avokadogrün gestrichenes Gefängnis. Alles war durchtränkt von Jean Orins Aura. Seine Stimme,
Weitere Kostenlose Bücher