Noir
Scheibe.
[zur Inhaltsübersicht]
28 .
S ie fuhren Richtung Südwesten, bis es Nacht wurde. In der Dunkelheit bewegten sich die roten Lichter vor ihnen wie in müden Blutbahnen. Wohin flossen sie? Manchmal sprang die Frage in Nino auf, die Frage nach der Zukunft, aber dank des STYX verflüchtigte sie sich gleich wieder.
Irgendwann mussten sie tanken. Nino hatte nur ein paar Münzen und eine Bankkarte in seinem Geldbeutel, die ihnen nicht mehr als hundertfünfzig Euro einbringen würde. Noir tankte den Wagen voll, dann ging sie mit Nino zum Zahlen. Während er sich in die Schlange stellte, schlich sie zum Kassierer hinter dem Tresen, um Geld aus der Kasse zu holen. Doch der Mann sah sie direkt an, als sie auf ihn zukam, und runzelte die Stirn. Noir blieb stehen wie eine Katze, auf die man eine Taschenlampe richtet. Dann eilte sie zurück zu Nino, der die Szene nervös verfolgt hatte.
«Ich bin sichtbarer als sonst.»
«Wegen dem STYX ?»
«Dadurch bin ich stärker mit dir verbunden, ja. Ich strahle deine Aura aus. Warte hier, ich habe vielleicht noch Geld im Wagen.» Sie lief nach draußen und kehrte mit einer Handvoll zerknitterter Scheine wieder.
«Das war alles, was im Handschuhfach war.»
Nino zählte rasch durch. Knapp zweihundert Euro. «Das reicht vorerst.» Er seufzte. Wo sollten sie überhaupt schlafen? Wo sich verstecken? Und danach, wenn es ein Danach gab – wie sollten sie dann leben?
«Es ist noch STYX im Wagen. Das können wir notfalls verkaufen.»
Er dachte darüber nach. «Lieber nicht. Das würde nur Aufsehen erregen. Willst du was essen?»
«Ich hab keinen Hunger.»
Er nahm ihre Hand. «Möchtest du trotzdem was essen?»
«Okay», flüsterte sie.
Noir entschied sich für eine Dose Sprühsahne und, offenbar weil das ältere Motorradpärchen vor ihnen dasselbe bestellte, zwei schrumpelig aussehende Pizzabrötchen aus dem Bistrobereich.
Es war kalt und feucht draußen, aber es tat gut, nach den vielen Stunden im Auto an der frischen Luft zu sein, also gingen sie bis zu den Sitzbänken auf einer Wiese und aßen im Schein der vorbeirauschenden Lastwagen.
Als die Pizzabrötchen verzehrt waren, sprühte Noir sich die Schlagsahne auf den Zeigefinger und später direkt in den Mund, bis beide Backen voll waren. Es bereitete ihr so viel Freude, dass sie Sahnekleckse lachte. Auch auf den Tisch sprühte sie Sahnehäubchen und leckte sie ab – wie ein Kind ins Spiel versunken.
Nino dachte nicht daran, wie dreckig die Tische sein mochten. Gerührt beobachtete er, wie Noir sich in eine Vierjährige verwandelte. Zwanzig Jahre. Ohne eigene Bedürfnisse und Träume, ohne ein Innenleben. Niemand konnte sich das vorstellen.
Als die Sahne leer war, hickste sie. «Mir ist schlecht.»
«Das war viel Sahne.»
Sie kam und setzte sich auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Hals. Wieder begann es zu nieseln, so fein, dass es nur ein kühles Kitzeln auf dem Nasenrücken war.
«Bist du müde?» Er schaukelte sie.
«Nein, aber ich will bald wieder schlafen. Im Träumen entsteht die Wirklichkeit.»
Eine Weile blieben sie noch sitzen, im Verkehrsdonnern, in der nassen Finsternis. Alles, was Nino früher als unangenehm und hässlich empfunden hätte, war jetzt, wo er nicht mehr Teil der normalen Welt war, wunderschön. Noir war ebenfalls von Staunen erfüllt, obwohl sie sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte, hin zur Realität. Im diffusen Nirgendwo und Irgendwann dazwischen waren ihre Empfindungen dieselben.
Sie nahmen die nächste Abfahrt und parkten auf einem Waldweg. Dicke Tropfen klatschten aus den Bäumen auf die Heckscheibe und ließen Nino immer wieder zusammenfahren, weil er sie für gedämpfte Schüsse hielt.
«Ich weiß nicht, wo wir hin sollen», sagte Noir unvermittelt.
Er spürte, wie dringend er eine Entscheidung fällen musste, aber das STYX verstopfte noch immer sämtliche Hirnwindungen.
Er schluckte. Sein Mund war schon die ganze Zeit trocken. «Die Einzigen, die wissen könnten, wie du wieder ein Mensch wirst, sind Mentoren.»
Eine Weile sahen sie nur zu, wie die Tropfen im blauen Schimmer der Autobeleuchtung am Fenster herabrannen. Es gab keine Hoffnung. Das war die einfache schreckliche Wahrheit.
«Vielleicht», sagte Noir, «ist es nicht so schlimm. Deine Liebe bekommt mir so viel besser als … als seine. Ich kann schlafen. Ich nehme Erinnerungen mit. Manchmal sehen mich die Leute sogar. Es reicht mir, als Teil von dir zu existieren.»
Das Einatmen fiel ihm
Weitere Kostenlose Bücher