Noir
des STYX hindurch an. Sekunden oder Minuten vergingen. Sein Zeitgefühl verschwamm erschreckend plötzlich. Endlich fand er Worte: «Du hast gesagt, nur Monsieur Samedi hat Geister.»
«Ja. Nur Mentoren wie er, die ihre Gabe missbrauchen. Leider gibt es immer wieder solche schwarzen Schafe. Die anderen Mitglieder der Mentorenschaft versuchen dann ihre Geister zu stehlen, also sie zu befreien, aber nur wenigen gelingt das. Umso beeindruckender, dass du es geschafft hast. Kannst du Geister generell sehen?»
«Nur sie.»
«Wirklich sehr ungewöhnlich.»
«Was ist in der schwarzen Box?»
Amoke spreizte ihre Hände darüber. «Hier drin ist die Botschaft der Mentorenschaft an dich. Deine Aufgabe, um Monsieur Samedi aufzuhalten.» Sie überreichte ihm feierlich die Box.
Sie war schwerer als erwartet und mit einem Leder bezogen, das sich wie schwitzende Haut anfühlte.
In der Küche atmete jemand. Vielleicht täuschte ihm das STYX dieses Atmen nur vor, aber er nahm es eindeutig wahr.
«Wer ist noch im Haus?», fragte Nino.
Für einen Moment schien Amoke irritiert. Dann grinste sie wieder, als hätte er einen dummen Witz gemacht. «Meine Eltern. Sie halten Mittagsschlaf.»
«Raus hier», flüsterte ihm Noir ins Ohr.
Nino gehorchte, ohne nachzudenken. Er erhob sich, in der einen Hand Noirs, in der anderen die Box. «Ich muss mal pinkeln.»
Amoke maß ihn mit ihrem Blick. «Natürlich. Neben der Treppe im Flur ist das Gästebad.»
Nino und Noir gingen. «Was ist?», raunte er ihr zu.
«Renn!» Noir zog ihn auf die Haustür zu, öffnete und lief den Weg zum Gartentor.
Direkt hinter ihnen im Haus rief Amoke seinen Namen. Das Tor ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Sie hasteten über die Straße zum Wagen, den Noir bereits per Knopfdruck aufgesperrt hatte. Kaum hatte Nino die Tür zugeschlagen, bretterten sie los. Vor dem Haus stand Amoke in ihrem Pyjama und sah ihnen mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck nach.
«Was ist denn los?», keuchte Nino.
«Sie hat keine Eltern, ihre Eltern sind Geister.»
Sein Körper reagierte mit einem Schaudern, bevor ihn der Sinn der Worte erreichte. «Was?»
«Ich hab den Mann gesehen. Er ist verstümmelt, ihm fehlt ein Bein, und, und die rechte Hand fehlt ihm auch. Er trägt ihre Verstümmelungen, sie muss irgendwann auf eine Landmine getreten sein.»
«Was?», wiederholte Nino nur.
Plötzlich klatschte etwas gegen die Windschutzscheibe. Noir stieß einen Schreckenslaut aus, bremste aber nicht.
Es war ein Vogel. Oder besser gesagt, sein kleiner, brauner Körper. Da, wo der Kopf hätte sein müssen, klaffte eine münzgroße Öffnung.
Lautlos glitt der kopflose Vogel über die Scheibe und hinterließ ein paar flaumige Federn in einer Blutspur.
Sekunden verstrichen, in denen nur Noirs Atmen zu hören war. Dann wimmerte sie: «Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mich zu einer Mentorin bringst? Mentoren haben Geister. Wer nicht drauf reinfällt und zum Geist wird, wird selbst einer von ihnen.»
«Ich bin kein Geist geworden. Und ich werde kein Mentor.»
Sie biss sich auf die Unterlippe. Nino spürte süße Hitze an seinem Mund. Als er mit den Fingern über seine Lippe fuhr, war sie blutig gebissen. Zitternd zeigte er ihr seine roten Fingerspitzen. «Siehst du? Wir haben beide gleich viel Einfluss aufeinander.»
«Was ist in der Box?», fragte sie dann.
Die Box, natürlich. Er hielt sie auf dem Schoß. Nun öffnete er den schlichten Metallverschluss und schob den Deckel nach oben.
Der Anblick raubte ihm mehrere Sekunden den Atem.
In schwarzem Samt lag eine Schusswaffe. Glänzend.
«Was ist drin?» Noir warf einen Blick darauf, als er nicht antwortete. Im Vergleich zu ihm schien sie nicht im Geringsten überrascht.
«Du sollst Jean für sie erschießen.»
Nino schloss die Box wieder. Er legte sie im Fußraum ab und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Lange fuhren sie, ohne zu sprechen. Noir lotste sie aus dem Gewirr der kleinen Straßen, während Nino seinen vom STYX zerstückelten Wahrnehmungen hinterherhetzte.
Monsieur Samedi. Erschießen.
Für wen? Steckte noch jemand hinter Amoke? Oder wollte sie nur einen Konkurrenten loswerden?
Egal, das alles betraf ihn nur am Rande. Sein Problem war: Amoke würde Noir nicht retten. Sie hatte es nie vorgehabt.
Vor ihnen erschien eine Autobahnauffahrt.
«Wohin fahren wir jetzt?»
«Weg. Nur weg.»
Nino nickte, und der Maserati tauchte zwischen die anderen Autos auf der Autobahn. Der Vogelflaum flatterte von der
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